Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

13. September 1914.

Am heutigen Sonntag sollten nach unserem Programm in allen Kirchen aus Anlass des Weltfriedenskongresses Friedenspredigten stattfinden. Hingegen werden heute auf Anordnung des Erzbischofs von Wien in allen Kirchen Bittgottesdienste um Sieg abgehalten werden.

Im übrigen unterscheidet sich dieser Sonntag des Friedenskongresses ausserordentlich von dem Bild, das wir uns von ihm gemacht haben. Wir stehen unter dem Druck höchster Spannung; wir wissen, dass Entscheidungen der Weltgeschichte vor sich gehen, dass in Frankreich und in Galizien seit Tagen entbrannte Schlachten toben, dass sich Millionenheere gegenüberstehen, dass täglich tausende blühender Menschenleben fallen, dass im Süden der Monarchie vor einigen Tagen das Unerhörte sich begeben hat, dass serbische Truppen in Ungarn einmarschiert sind, und unsere Zeitungen erwähnen heute morgen kein Wort von all den Dingen, keine Silbe über den Stand der Ereignisse. Es fehlen sogar die Stimmung machenden Mitteilungen der früheren Tage, wo ganz allgemein von der «günstigen» Lage, von langsamen Fortschritten und guter Stimmung Nachricht gegeben wurde. Das ist niederdrückend, denn es lässt nichts Gutes vermuten.

Der Papst hat neben seiner allgemeinen Enzyklika gegen den Krieg, deren Wortlaut noch immer nicht vorliegt, positive Vorschläge gemacht, die die Einstellung der Feindseligkeiten bezwecken. Die «Tribuna» meldet etwas unklar, es sei von einem «Friedenskongress» oder einem «Schiedsgericht» die Rede. Auch aus Amerika liegen Meldungen vor, die von einem erneuten Vermittlungsversuch Wilsons sprechen. Der frühere Botschafter, jetzige Senator Oskar Strauss, unser bekannter Friedensmitkämpfer, soll zwischen Bryan und dem deutschen Gesandten in Washington, Bernstorff, vermitteln. Die Nachrichten sind unklar, aber immerhin bedeutungsvoll. Es rührt sich etwas. Und in Rom wie in Washington sind es die Kräfte des Pazifismus, die sich regen. Es hat nur wenig Wahrscheinlichkeit, dass die Verhandlungen jetzt, wo noch nach keiner Seite eine richtige Entscheidung gefallen ist, zu einem Ergebnis führen werden. Ja, wenn wir einen erleuchteten Staatsmann in Europa hätten, der es verstünde, aus der gegenwärtigen Lage einen Frieden hervorgehen zu lassen, der ein einiges Europa verhiesse, so wäre dazu gerade jetzt die günstige Gelegenheit, ehe einer der grossen Gegner gedemütigt am Boden liegt. Es wäre möglich; denn ausser in Deutschland wird von keinem Volk der Krieg mit Begeisterung geführt, und auch in Deutschland ist die Begeisterung mit ernster Einsicht gepaart, so dass ein ehrenvoller milder Friede, trotz chauvinistischer Raserei, von der Mehrheit des schaffenden Volkes gebilligt werden würde. Der Wunden sind in den fünf Wochen wahrlich schon genug geschlagen, und es wird Jahre dauern, sie zur Heilung zu bringen.

Wenn ich so die Leute hasserfüllt von andern Nationen reden höre, so bewegt mich immer der Gedanke, wie notwendig es wäre, in die Psychologie des Nationenhasses tiefer einzudringen. Der Hass scheint sich am besten dort auszubreiten, wo Anschauungen fehlen. Er füllt das Vacuum des Verstandes aus. (Wie oft Worte die Stelle der Begriffe: «Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.») An Stelle der Anschauung tritt die Vorstellung. Aber nicht die gewollt objektive Vorstellung, sondern die durch Hassgefühle bereits beinflusste, die dann willig alle Details aufnimmt, die durch die Presse oder andere Organe der öffentlichen Meinung zugetragen wurden. So entwickelt sich im Geist der meisten Menschen eine Vorstellung der andern Nation wie die schauerlichen Götzenbilder der Naturvölker deren Gottesvorstellung zum Ausdruck bringen.

Sogar vernünftige, körperlich und seelisch gutgekleidete Menschen leisten oft Haarsträubendes in bezug auf Nationenhass. Wie oft höre ich jetzt solche Leute ihrer Befriedigung über Niederlagen der Franzosen Ausdruck geben. Sie begnügen sich nicht, sich über den Sieg der Deutschen zu freuen. Sie freuen sich noch mehr über die Vernichtung der Franzosen. Wenn ich solche Leute dann frage, ob sie Frankreich kennen oder überhaupt einen Franzosen, pflegen sie das immer zu verneinen. Warum hassen sie alsdann? — Sie haben sich unter dem Einfluss der Zeitungen, der Romane oder — und das wohl am meisten — der französischen Possen und Sittendramen das Bild irgend eines niederträchtigen Kerls zurecht gelegt, das in ihrem Hirn erscheint, wenn der Gedanke Franzose darin aufleuchtet. Es ist irgend ein schwadronierender, Weiber jagender «Gaston», ein oberflächlicher Salon-Windbeutel, der in seinen freien Stunden nichts anderes zu tun hat, als Deutschland zu hassen. Ins weibliche übersetzt ist diesen Gehirnen die Französin eine seidenrauschende Kokotte, die sich über die ernste deutsche Frau lustig macht, deren Herz und Sinn nach Tand geht, die nur in Toiletten schwelgt, den Ehebruch als Beruf betreibt und ebenfalls in den Mussestunden, die ihr bleiben, die Deutschen hasst. Es werden sich unsere Franzosenhasser nicht nur ein derart gestaltetes soziales Bild von den Franzosen machen, sie werden sich dabei auch immer ein ganz bestimmtes physisches Bild gestalten. Aus dem Reichtum unserer Witzblätter wird sich ihrem Hirn irgend ein vom Suff gerötetes Gesicht mit langer Moustache und Warzen auf der Nase einprägen, das ein Kerl trägt, der mit den Händen und Füssen unaufhörlich gestikuliert und so notgedrungen unseren Abscheu erregen muss. Diese Vorstellungen verdichten sich, werden starre Gebilde, über deren Ursprung man nicht mehr nachdenkt, und die dann automatisch in Erscheinung treten, wenn das Wort Franzose das Wahrnehmungszentrum überschreitet. Dann löst dieses Gebilde das dazugehörige Gefühl der Verachtung aus und einen aus dem Herzen klingenden Jubel, wenn man erfährt, dass 100,000 dieser warzenbedeckten, rotnasigen, ehebrecherischen und unehrlichen Windbeutel von den lichten Preussenheeren geschlagen, gefangen, vernichtet wurden. «Das gönne ich diesen Kerlen.»

Und wie verhält sich diese Vorstellung zur Wirklichkeit? Wie sehen diese Menschen aus, wenn man sie vor sich sieht. Ich werde den Augenblick nie vergessen, den ich selbst vor vielen Jahren durchlebte, und der mir plötzlich den Star stach, der auch mein geistiges Auge umnebelt hatte. Ich kam zum ersten Mal nach Paris. Der Zug nahte dem ersehnten Ziel, und gespannt blickte ich zum Waggonfenster hinaus, den Dingen und Menschen entgegen, die meiner harrten. Kurz vor der Einfahrt blieb der Zug wenige Minuten stehen. Und ich sah vor mir die ersten Pariser. Es waren Kohlenarbeiter mit geschwärztem Gesicht und schwarzgewordenen blauen Zwilchanzügen, die lustig schaufelten, um ihre täglichen 2 Franken für die Befriedigung ihrer Lebensnotdurft zu erringen. In diesen zwei Minuten zerriss in mir das Bild des Franzosen als eines im Klubstuhl Zigaretten rauchenden Nichtstuers, dessen Beruf, meiner damaligen Ansicht nach, nur in der Ergatterung des Weibchens und im Hass der Deutschen bestand. Wie, es gab auch noch andere Pariser!? Auch Kohlenschaufler leben in Paris?! Nicht dass ich mir darüber auch vorher im Unklaren gewesen wäre. Ich hätte mir denken können, dass die Pariser Kohlen benötigen, und dass es Leute geben müsse, die sie in die Waggons und aus diesen herausschaufeln, und dass diese Leute nicht in Pyjamas herumgehen wie die Helden der französischen Salonstücke, sondern in geschwärzten Arbeitskleidern. Nur dass diese Verstandesergebnisse mein Bewusstsein nicht ausfüllten, dass das Wort Paris oder Frankreich automatisch vom Verstand nicht regulierte Bilder auslöste, wie sie uns durch die Organe der öffentlichen Meinung eingetrichtert und von uns gedankenlos aufgenommen werden.

Und nachher, auf meinen häufigen Reisen nach Paris und Frankreich fand ich, dass die Menschen dort doch ganz anders sind, als sie in den Vorstellungen unserer Landsleute leben. Statt dieser unsere Vorstellung belebenden Windbeutel und Kokotten fand ich die gleichen Lebens- und Arbeitstypen wie in unseren Ländern. Menschen, die über die Sorgen und Hoffnungen ihres eigenen kleinen Glückes gar nicht dazu kommen, andere Nationen zu hassen oder ihnen unmenschlich zu begegnen. Das Leid des Alltags ist so gross, so vielfältig, und der Drang des Menschen zur Überwindung dieses Leids und seine Freude mit der knappen Glückserrungenschaft füllt so sehr die Jahre eines Erdenbürgers aus, dass sie alle, die in den Kulturzonen leben, so verschieden ihre Sprache auch ist, eine Uniform des Wesens und der Seele tragen.

Hasset die Franzosen, sehet in ihnen Falsche, Renommisten, Degenerierte, Hasser Eurer selbst. Ich sehe sie anders. Hier sehe ich den Vater, der davon träumt, dass sein Sohn ein Examen bestehe, das ihm eine Karriere öffnen wird, hier sehe ich die Mutter, die ängstlich am Krankenbett eines Kindes wacht und mit Sorge in das Antlitz des beobachtenden Arztes blickt. Da wieder finde ich junge Burschen, die ernst über ihre Berufswahl sprechen und ein junges Mädchen, das frühmorgens in die Arbeitsstube läuft, um zu dem Unterhalt der kinderreichen Familie etwas beitragen zu können. Dieser junge Mann im Omnibus mit seinem in die Ferne schweifenden Auge denkt an die Zeit, wo ihm eine Gehaltszulage von Fr. 20.— gestatten wird, seine Lebenshaltung besser zu gestalten. Ein Greis daneben bedauert, dass er sein Vermögen, das ihm eine sichere Zukunft in Aussicht gestellt hat, nicht besser verwaltet habe. Hier steht ein jungverheirateter Handwerker an der Türe seines Ladens und ersehnt sich Arbeit, damit der Traum der Selbständigkeit nicht zu rasch verfliege. Jener Mann dort mit dem traurigen Blick weiss, dass seiner in den nächsten Tagen eine Operation harrt, die auf Tod und Leben unternommen werden muss. Hier im Restaurant finde ich ein glückliches Elternpaar, das keine andere Sorge kennt als aus den Kindern gesunde und glückliche Menschen zu machen, und die Dame, die auf dem erhöhten Sitz der Buchhaltung das Getriebe des Restaurants überschaut, waltet in Ehren und mit Fleiss seit 20 Jahren dieses Amtes. Gefällig bedient mich der Verkäufer in dem grossen Magasin, geschäftig läuft der Briefträger über die Strasse und väterlich weist mir der Schutzmann den Weg, nach dem ich ihn befragt habe. In jener Nebenstrasse hofft der Grünkramhändler auf Absatz der mit Obst und Gemüse gefüllten Körbe, und die schlichte Frau mit dem Einkaufskorb rechnet gerade aus, ob sie diesen oder jenen Einkauf noch wagen könne, ohne das schmale Budget des Haushaltes aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dies alles, was da zu Tausenden und Hunderttausenden herumläuft, dieses Menschenkonglomerat, das die Millionenstadt bildet, es «hasst» nicht die Deutschen, es denkt gar nicht an sie, es hat keinen andern Zweck, als der kargen Freude nachzujagen, die unter Last und Widerständen der kurze Lebenslauf bietet.

Ja wer bei dem Wort «Franzose» nicht die im Unterbewusstsein festgesetzte Karikatur aufleuchten lässt, sondern mit seinem Auge erkennt, dass jene Menschen sich nach den gleichen ewigen Gesetzen bewegen, von Hunger und Liebe getrieben wie wir, des Lebens Ernst und Freude ertragend und schlürfend wie wir, der da erkennt, dass der Krieg denselben Schmerz und die gleiche Erschütterung in ihre Reihen trägt wie in die unseren, der kann nicht mehr blind hassen und verdammen. Tatwam asi — das bist Du — gilt auch für die Vorstellung von Nation zu Nation. Wann werden die Menschen den Irrwahn erkennen, dem sie sich hingeben, und durch den sie ihr eigenes Leid statt zu lindern nur vermehren? Wann wird man ihnen von den Kanzeln predigen «das bist Du», wann in der Schule, in den Büchern, in den Zeitungen, damit der verderbliche und unehrliche Nationenhass endlich aufhöre?

Das «Neue Wiener Tagblatt» bringt heute folgende Depesche:

Ein Artikel des Erzherzogs Josef Franz über den Krieg.

Budapest, 12. September. (Privattelegramm). Erzherzog Josef Franz, der Sohn des Erzherzogs Josef, schrieb einen Artikel über den Krieg, der in der morgigen Nummer der Revue «Elet» veröffentlicht wird. In dem Artikel heisst es: «Wir leben in einer überaus interessanten Zeit. Ich bin stolz darauf, die Wiedergeburt einer Nation miterleben zu können. Ein mächtiger Orkan wütet. Er bringt uns aber reine Luft. Die Moral wird erstarken und alles um uns herum wird reiner. Denn selbst die Literatur kehrt zur Romantik zurück. Es scheint fast, als ob das Gefühlsleben der Menschlichkeit nach einer Läuterung dürste. Gebe Gott, dass dieser Krieg bald sein Ende finde! Jedermann empfand jedoch die dringende Notwendigkeit dieser Operation. Ihr musste viel Blut geopfert werden und viele Individualitäten... »

Erzherzog Josef Franz steht im zwanzigsten Lebensjahr und ist Jurist.