Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

7. September 1914.

Heute wird die Räumung Lembergs offiziell zugegeben. «Aus taktischen Gründen», wie es heisst. Die Stimmung ist doch etwas gedrückt. Die Physiognomie der Stadt ist verändert durch die zahlreichen, nach zehntausenden zählenden Flüchtlinge aus Galizien und die immer stärker in Erscheinung tretenden verwundeten Soldaten, denen man auf der Strasse begegnet.

Die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» veröffentlicht eine Mitteilung des Reichskanzlers an die Vertreter der United Press und der Associated Press, datiert vom 2. September aus dem Grossen Hauptquartier.

Es wird darin erklärt:

1. Der Kaiser ist bis zum letzten Augenblick bemüht gewesen, den Frieden zu erhalten.

2. Dass Russland unter allen Umständen zum Krieg entschlossen war.

3. Dass England jahrzehntelang den deutschfeindlichen Nationalismus in Russland und Frankreich ermutigte.

Die bona fides ist hier sicherlich nicht abzustreiten. Aber zur Vermeidung von Kriegen genügt das noch nicht. Auch in Deutschland und Österreich wurde gehetzt (siehe Nippolds Schrift über den deutschen Chauvinismus), aber niemandem würde es einfallen, die Äusserungen jener Hetzer mit Deutschland in seiner Gesamtheit zu identifizieren. Kriegshetzerische Umtriebe gab es in allen Ländern. Sie wären einzig zu überwinden gewesen durch eine konsequente pazifistische Politik, die die Parteien des guten Willens und der Verständigung, die es ebenfalls in allen Ländern gab, so gestärkt hätte, dass diese die Gefahren der wirklichen Umsturzpartei hätten beseitigen können.

Wenn eine einzige Regierung von den fünf im Kriege befindlichen Ländern den Krieg unter allen Umständen hätte vermeiden wollen, so wäre es ihr gelungen. Bloss Zeitgewinnung hätte sie durchzusetzen brauchen. Die Erhaltung des Friedens hat an einem Haar gehangen. Alle Rechtfertigungsversuche, von welcher Seite sie auch kommen mögen, haben keinen andern Zweck, als immer wieder darzulegen, dass keiner dieser Staaten, die jetzt dieses fürchterliche Kriegshandwerk betreiben und dem Unheil seinen Lauf lassen, den Krieg wollte. Keiner aber imstande war, ihn aufzuhalten. Das ist der Bankrott des militärischen Friedenssicherungsprinzips und erweist die Notwendigkeit der pazifistischen Friedenssicherung.

Wichtig erscheint mir in des Reichskanzlers Mitteilung folgender Satz:

«Wenn sich einmal die Archive öffnen, so wird die Welt erfahren, wie oft Deutschland England die Freundeshand entgegenstreckte; aber England wollte die Freundschaft mit Deutschland nicht. Eifersüchtig auf die Entwicklung Deutschlands und in dem Gefühl, dass es durch deutsche Tüchtigkeit und deutschen Fleiss auf manchen Gebieten überflügelt werde, wünschte es, Deutschland mit roher Gewalt niederzuwerfen, wie es seinerzeit Spanien, Holland, Frankreich niederwarf.»

Das ist niederschmetternd und unfassbar. England wollte die Freundschaft mit Deutschland nicht? — Ja, welches England denn? Wir sahen doch ein Jahrzehnt lang die Vertreter aller Lebenssphären den festen Willen einer Verständigung mit Deutschland bekunden, den Irrwahn einer Unerträglichkeit des kommerziellen Wettbewerbes bekämpfen, den anglo-deutschen Krieg als Verbrechen brandmarken. Und wir sahen, dass diese Bestrebungen in England stärker waren als in Deutschland. Und nun soll es wahr sein: England habe die Freundeshand Deutschlands zurückgestossen. Welches England? — Und heraus mit dem Inhalt der Archive!

Die übrigen Vorwürfe des Reichskanzlers über die moralische Skrupellosigkeit der englischen Politik, gekennzeichnet durch deren Verbindung mit dem despotischen Russland, sind nicht unbegründet. Nur ist diese Verbindung nicht neu. Ich weiss, dass es seit langem in England Kreise gibt, die diese Verbindung ebenfalls verabscheuen. Warum hat man nicht den Einfluss jener Kreise gefördert. Es sind gerade die Pazifisten, die drüben diese Ideen vertraten. Und es rächt sich auch hier wieder diese Vernachlässigung des Pazifismus. Man vergass immer, dass der Pazifismus keine allein-deutsche Angelegenheit ist, sondern eine internationale, die in den andern Ländern jene ldeen fördert, die dann dem eigenen Lande von Vorteil sind. — Möge das grauenhafte Jahr 1914 die Einsicht von der grossen vaterländischen Bedeutung des über alle Vaterländer verbreiteten Pazifismus erwecken. Wahrlich manche Träne der Zukunft könnte verhindert werden.

Die treuga dei, die der Kaiser für das Reich verkündet hat, wird zwar von den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Liberalen, namentlich aber von den Pazifisten eingehalten, aber nicht von den Ultra-Nationalisten, von den Chauvinisten und Alldeutschen. Diese hören nicht auf, ihre aufreizenden und verletzenden Anschauungen breit zu vertreten. Sie sind ja auch die hauptsächlichsten «Freudtragenden» bei diesem Weltbrand, die Triumphatoren. Sie haben diesen Krieg gewollt, gemacht, entzündet. Sie freuen sich nun des Brandes und vermögen sich in ihrem Freudentaumel die Reserve nicht aufzuerlegen, die eine kluge Politik für die ungeheure Kraftanstrengung der Nationen als notwendig bezeichnet hat. So wird mir das Durchlesen der Zeitungsausschnitte zu einer Qual. Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an. Es ist unmöglich, das Meer von Überhebung, Voreingenommenheit und Leichtfertigkeit, das sich da auftut, nur anzudeuten. Nur ein «Eingesandt» sei hier festgehalten, weil es meine persönlichen Gefühle verletzt. Ein Mensch, der seinen Namen verschweigt, richtet es an die «Rhein- und Ruhr-Zeitung» in Duisburg, die es in ihrer Nummer vom 1. September zum Abdruck bringt. Es lautet:

«Schon seit mehreren Tagen liegt in der Auslage einer hiesigen Buchhandlung an auffallender Stelle der «Roman» Berta von Suttners «Die Waffen nieder». Dieses phrasentriefende, dichterisch wertlose Machwerk scheint mir gerade in den jetzigen, von Waffenlärm erfüllten Tagen in eine deutsche Buchhandlung nicht zu gehören. Es ist aus dem Irrtum heraus entstanden, als müsse man dem friedliebendsten aller Völker, dem deutschen, die Schrecken des Krieges recht eindringlich predigen, um ihm die Lust am Waffenhandwerk abzugewöhnen. Jetzt aber bedürfen die zu den Fahnen Geeilten wie die Heimgebliebenen der Anfeuerung und nicht des Flaumachens. Darum, hinaus mit dem Erzeugnisse der «Friedensberta» aus einer deutschen Buchhandlung!»

Bertha von Suttners Weltbuch, das in allen Sprachen zu allen Völkern redet als öffentliches Ärgernis hingestellt, als «Machwerk», dessen Auslage einer «Deutschen Buchhandlung» nicht würdig wäre! Das ist der verwirrende Einfluss des Krieges! Und das in einem Lande, dessen grösster Feldherr gesagt hat: Jeder Krieg, auch der siegreiche, ist ein nationales Unglück. — Soll man etwa auch Moltke verbannen? —

Ach ja, der Chauvinismus, die Kriegsverherrlichung, der falsche Patriotismus, des Krieges Dreigespann, sie haben hohe Zeit. Ein Beispiel noch! In der Sonntagsnummer der «Neuen Freien Presse» (6. September) schreibt Hans Müller ein glänzendes Feuilleton über die regenerierende Kraft des Krieges. Er schildert sein bisheriges behagliches Leben in Club-Fauteuils, im Luxus eines reichen Müssigganges. «Nun liege ich aber nachts auf Steinen da und entbehre nichts und fürchte mich nicht und frage: welches ungeheure körperliche und seelische Geheimnis vollzieht sich in mir? . . . Wenn Liane sich jetzt über mich beugen würde, sie die schönste Frau, nach der ich gezittert habe, mit allen Fibern meines Körpers, wenn sie jetzt ihr goldenes Haar über mich fallen liesse — ich schübe es von meinen Augen weg, nur um das Hellewerden der Wolken nicht zu versäumen, die zum Auftrieb nach Ostrowa Palcze mahnen.» — Und dann: «Was ist das für ein roter Schein im Osten? Herrgott, der Morgen bricht an! Bursch, gib mir die Zügel meines Pferdes! Seine Hufe werfen schon die Erde auf, seine Nüstern blähen sich vor Morgenwonne. Wie ein Schluchzen mischt sich der Atem des Tieres, das Singen der Soldaten, mein eigener Herzschlag in einen einzigen Ton. Jetzt weiss ich, dass es bald gelten wird. Ich weiss, welches ungeheure Geheimnis uns Schwache im Tiefsten gewandelt hat, mich und alle anderen, die so waren wie ich. Wir haben die grössere Süssigkeit der Pflicht erkannt. Wir zerbrechen unter unseren Taktschritten ein unnützes Leben, das dem bunten Schein näher war als der Wirklichkeit. Wir waschen ab von unseren Stirnen Begehrlichkeit, Sünde und Zweifelsucht. Wir ahnen schon den Rausch des Sieges über uns selbst. Durch die klare Luft dieses aufdämmernden Morgens schreiten wir erhobenen Hauptes in eine Zukunft, die anders sein wird, dass ihre Vorahnung schon uns zu Helden macht. Die Fahnen empor, Brüder! Und lasst jetzt ein Marschlied klingen, in dem der ganze Trotz unserer neu gefundenen Jugend zum Himmel aufjauchzt. Vorwärts, marsch, den Finsterlingen entgegen! Wehe, wehe dem Feind, der es wagt, uns seine Augen sehen zu lassen . . .»

Und Tausende lasen es, staunend vor der umwälzenden Majestät des Krieges, die uns erst zu vollwertigen Menschen macht. Seit gestern weiss ich nur, dass Hans Müller nicht Soldat ist — untauglich — und die Regeneration seines Daseins in seinem Club-Fauteuil — — «gedichtet» hat.

Ein typischer Fall!

Und dieser aufdringliche Patriotismus! Nicht nur in den Zeitungen, wo bei der Ankunft eines Verwundetentransportes die Namen der Damen und Herren genannt werden, die sich dabei wichtig gemacht und den Berufenen im Wege standen, die den Schrecken der zerfetzten Leiber als Folie ihrer werten Persönlichkeit benützten. Diamantenbehangene Damen setzen sich in Ringcafes und zupfen Charpie, fahren strickend in den Strassenbahnen. Man soll sehen! — Oh welcher Gestank fussschweissdurchtränkter Seelen! — — —