Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 22. September.

In der von Professor Schiemann verfassten Streitschrift gegen «J’accuse!», «Ein Verleumder, Glossen zur Vorgeschichte des Weltkrieges» betitelt, wird der Präventivcharakter des gegenwärtigen Krieges ziemlich erkennbar angedeutet. Dies geht aus zwei Stellen hervor.

Erstens, Seite sechs:

«Die tapferen Bücher von Bernhardi haben in richtiger Voraussicht der sich vorbereitenden Dinge auf die Notwendigkeit hingewiesen, zum Schwert zu greifen, ehe die Verschwörung, die Deutschland bedrohte, zur Tat überging. Das war umsomehr sein gutes Recht, als, wie wir noch sehen werden, die Kriegsdrohungen speziell von englischer und russischer Seite seit Jahren nicht abbrechen wollten. Aber es ist eine direkte Fälschung, wenn die Ratschläge Bernhardis mit den geheimen Zielen unserer Regierung identifiziert werden. Der Regierung waren seine Schriften — soweit sie nicht rein militärischen Inhalts waren — unbequem und unerwünscht, weil sie den Missbrauch voraussah, den böser Wille mit ihnen treiben konnte. Heute wird schwerlich jemand bestreiten, dass Bernhardi die Zusammenhänge richtig gesehen und erkannt hat.

Zweitens, Seite sieben:

«Es ist auch eine historisch unhaltbare Vorstellung, dass ein Präventivkrieg nicht seinem Wesen nach ein Defensivkrieg sein kann.»

Auch darin ist die Anerkennung des Präventivcharakters dieses Krieges zu ersehen, dass sich Prof. Schiemann begnügt, die Anschauungen des Verfassers von «J’accuse!» über die Vorgeschichte des Krieges zu kritisieren und zu widerlegen, während er auf dessen Hauptargumente, die sich auf die kritischen Vorgänge in der Zeit vom 23. Juli bis 1. August 1914 beziehen, gar nicht eingeht. «Auf eine Polemik seiner (des Verfassers von «J’accuse!») Auslegung der amtlichen Publikationen des Materials, das die Zeit zwischen der Ermordung des Erzherzogs und dem Ausbruch des Krieges betrifft, lassen wir uns nicht ein». Daraus ergibt sich, dass der Verfasser die politische Haltung der Ententemächte vor der Krise für entscheidend und bestimmend für die Haltung der Zentralmächte während der Krise ansieht. Danach kann es sich für ihn nicht darum handeln, festzustellen, ob der Krieg innerhalb der Krise vermeidbar war, sondern nur darum, ob diese Vermeidung im Hinblick auf die Konstellation nützlich gewesen wäre.

Die Anerkennung des Präventivcharakters des Weltkrieges verschiebt aber das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn um ein Beträchtliches. Wenn der Krieg geführt worden wäre, um Österreich gegen die Übergriffe der großserbischen Propaganda zu schützen, so hätte sich Deutschland für Österreich eingesetzt, wurde er aber geführt, weil Deutschland die Abwehr der Entente für richtig fand, ehe die Verschwörung, durch die sich Deutschland bedroht fühlte, zur Tat überging, dann hat sich Österreich-Ungarn für Deutschland eingesetzt oder ist vielmehr von der deutschen Diplomatie geschickt in den Kampf hineingezwängt worden. Denn für einen Angriffskrieg, selbst wenn er deutscherseits als ein vorgreifender Verteidigungskrieg angesehen würde, wäre für Österreich der casus foederis ebensowenig gegeben gewesen, wie ihn Italien für sich als gegeben ansah. In dem Augenblick jedoch, wo ein ursprünglich österreichischer Streit zum Ausgangspunkt des Krieges gewählt wurde, war die Doppelmonarchie für den Krieg an der Seite Deutschlands festgelegt.

Was nun die Richtigkeit des Präventivkriegs anbelangt, kann man sich auf die Ansichten früherer Lenker der deutschen Politik berufen. Von den vielen Äußerungen Bismarcks gegen ein solches Unternehmen, sei auf eine Stelle in seiner berühmten am 6. Februar 1888 im Reichstag gehaltenen Rede hingewiesen, wo er sogar schon auf die Möglichkeit einer franco-russischen Allianz hinwies, die es damals bekanntlich noch nicht gab. Er sagte:

«Wenn ich heute hier vor Sie treten und Ihnen sagen wollte: ... Wir sind erheblich bedroht von Frankreich und Russland; es ist vorauszusehen, dass wir angegriffen werden; meiner Überzeugung nach glaube ich es als Diplomat, nach militärischen Nachrichten hierüber; es ist nützlicher für uns, dass wir als Defensive den Vorstoss des Angriffes benützen; dass wir jetzt gleich schlagen; ... und ich bitte also den Reichstag um einen Kredit von einer Milliarde, um den Krieg gegen unsere beiden Nachbarn heute zu unternehmen — ja, meine Herren, ich weiss nicht, ob Sie das Vertrauen zu mir haben würden, mir das zu bewilligen. Ich hoffe nicht ... Es ist nicht die Furcht, die uns friedfertig stimmt, sondern gerade das Bewusstsein unserer Stärke, das Bewusstsein auch dann, wenn wir in einem minder günstigen Augenblick angegriffen werden, stark genug zu sein zur Abwehr und doch die Möglichkeit zu haben, der göttlichen Vorsehung es zu überlassen, ob sie nicht in der Zwischenzeit doch noch die Notwendigkeit eines Krieges aus dem Wege räumen wird».

Bismarcks Nachfolger, Reichskanzler v. Caprivi, äusserte sich zum Präventivkrieg in seiner Reichstagsrede vom 23. November 1892, mit der er die grosse Militärvorlage jenes Jahres vorlegte, wie folgt:

«In der Presse, und auch von wohlmeinenden hoch-patriotischen Männern ist mir die Ansicht entgegengetreten, ja, aber der Zustand in einer so schweren Rüstung, wie wir ihn tragen, einer Rüstung, die noch erschwert werden soll, wird der nicht auf die Dauer unerträglich, und täten wir nicht besser, dem Zustande dadurch ein Ende zu machen, dass wir selbst zum Schwert griffen, den günstigen Moment wählten und uns dann durch eine Ausnützung der Siege, auf die wir hoffen dürfen, einen Frieden wiederum auf 20 bis 30 Jahre sicherten. Ich glaube, dass das eine Ansicht ist, die die Regierungen und auch das deutsche Volk niemals würden akzeptieren wollen. Abgesehen von den moralischen Bedenken, die dem entgegenstehen, stehen auch schwere sachliche Bedenken einer Durchführung solcher Ideen im Wege». Caprivi schilderte die Schwierigkeiten des Kriegs gegen Frankreich, die Fragwürdigkeit des Siegespreises selbst. «Wir wollen keine neuen Milliarden. ,Wir haben in dem Gewinn von Milliarden doch auch ... ein Haar gefunden, wir wollen keinen französischen Besitz mit undeutschen Menschen uns aneignen. Nach Hause gekommen müssten wir neu rüsten, da andere Leute da sein würden, die vielleicht geneigt wären, von unserer Schwäche Vorteil zu ziehen. Ich habe die feste Überzeugung, dass selbst nach einem glücklichen Abschluss eines prophylaktischen Kriegs der Zustand, in den wir versetzt werden würden, ungleich ungünstiger wäre als der gegenwärtige. Ich wiederhole also, nicht bloss als meine eigene Überzeugung, sondern, soweit es mir bekannt ist, als die Gesinnung der Regierungen, dass niemals von Deutschland ein solcher Präventivkrieg wird geführt werden».

Bismarck und Caprivi lehnten also Präventivkriege ab.

Wichtig und gegen den Wert des Präventivkriegs sprechend ist die Bemerkung Caprivis, dass der Rat «wohlmeinender hochpatriotischer Männer» dahin ging, zum Schwerte zu greifen, um den Frieden auf 20 bis 30 Jahre zu sichern. Jene hochpatriotischen Männer von 1892 glaubten also, es als sicher hinstellen zu können, dass der Friede in der nächsten Zeit von den Gegnern Deutschlands ohnehin gebrochen werde. Deutschland wurde aber nicht angegriffen und auch ohne dass sich Deutschland 1892 in das Abenteuer eines Präventivkriegs gestürzt hat, ist das Ziel, das man durch ihn allem zu erreichen wähnte, eingetreten. Der Friede blieb nach 1892 auch ohne jenen empfohlenen Krieg 22 Jahre lang erhalten. Hätte man ihn aber damals geführt, so würde man den jetzigen Weltkrieg als die im voraus in Aussicht genommene Friedensgrenze als ganz natürlich ins Auge fassen. So haben wir also, weil der damalige verantwortliche Führer der deutschen Politik den Einflüsterungen der Patrioten nicht nachgab, wenigstens ein blutiges Gemetzel erspart. Ob dies nicht auch 1914 möglich gewesen wäre? —