Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Montreux, 13. Mai.

Die Ferientage am Genfersee gehen zu Ende. Mitten im Krieg unter französisch sprechenden und französisch denkenden Menschen. Und doch nichts von Feindseligkeit oder Hass wahrgenommen. Nicht als ob diese Empfindungen nicht bestünden, aber sie äussern sich im täglichen Leben nicht so, wie man es sich nach den Zeitungen vorstellt. An sich ist kein Mensch aus Beruf Hasser oder Verächter einer andern Nation. Jeder ist erst Mensch und mit seinen kleinen oder grossen Daseinsfragen beschäftigt. Erst in der Vorstellung und unter der Suggestion der Presse entwickelt sich Hass und Verachtung anderer Menschen. Was ich unter diesen französischen Menschen wahrgenommen habe, ist Lieblichkeit, Freundlichkeit und Grazie des Wesens, ist eine hohe und angenehme Lebensart, ist Würde im Schmerz und in der Trauer. Zu vielen Hunderten gehen hier die hospitalisierten französischen Gefangenen um, Mannschaften wie Offiziere. Sie grüssen jeden freundlich, der ihnen begegnet, sie sind so freudig dankbar für das gütige Schicksal, das ihnen an Stelle des Aufenhalts in den Gefangenenlagern den Aufenthalt in diesem Paradies beschert hat. Und ich freute mich mit ihnen. Das Gefühl der Feindesstellung zu ihnen konnte niemals bei mir aufkommen. Ich sah in ihnen nur Unglückliche, die in diesen Krieg hineingezerrt wurden, dann wieder Glückliche, die ihm halbwegs günstig entkommen sind. Welche Wohltaten diesen Armen durch den ihnen in der Schweiz ermöglichten Aufenthalt gewährt wird, wird man erst später ermessen. Schade, dass nicht alle Gefangenen so glücklich sind, und schade, dass man das Elend der Österreicher in Sibirien nicht in das Glück dieses Paradieses umwandeln kann.

Neben den hospitalisierten Kriegsgefangenen bilden die freiwillig oder gezwungen Exilierten aus den verschiedenen kriegführenden Ländern das Hauptkontingent der Gäste dieses schönen Stückchens Welt. Auch hier die Glücklicheren im Unglück. Jene, die mit ihrer Person noch genügend von ihrem Vermögen reiten konnten, um den Krieg im kriegsfreien Land überdauern zu können. Aber, alle sind sie Entwurzelte, die aus jahrelanger Gewohnheit, aus Beruf, Familie, Heimat herausgerissen wurden, um die Entwicklungen einer ungewissen Zukunft abzuwarten. Unter den Gästen dieser Art, die die Hotels und die Villen an der Riviera des Genfersees bevölkern, ist das Elend noch mit Glanz überzogen, es lässt aber die Tiefe und den Umfang des unbekleideten Elends erfassen, das dieser Wahnwitz über die schöne Welt gebracht.

Immer mehr vertieft sich in mir die Überzeugung , dass es nicht notwendig wäre, dass die Menschen nach diesem Krieg, den Wünschen der im Hass Erntenden entsprechend, in wilden Gefühlen gegeneinander leben müssten. Die Prüfungen aller, in allen Ländern, sind so hart, dass die Menschen ihre Solidarität und ihre Rettung durch Solidarität begreifen könnten, wenn — wenn man jener Presse das Handwerk legen würde, die mit den giftigen Gasen der Verhetzung den Trieb nach Solidarität erstickt. Wollten diese armen, geprüften Opfer des grössten Bubenstücks der Weltgeschichte doch erkennen, wo ihr Feind steht! Sie besässen dann die Kraft, die Wunden, die ihnen zugefügt wurden, zu ertragen und nach Möglichkeit zu heilen.

Drüben vor meinem Fenster erhebt sich die Küste Frankreichs. Freundliche Ortschaften lächeln im frischen Maiengrün der Wälder an den Ufern des sonnenbeglänzten Sees. Wie schön wäre diese Welt, wenn nicht bornierte Stümper an ihrem Organismus glaubten herumdoktern zu müssen, von der blöden Meinung befangen, Geschichte zu machen und die Menschheit dadurch zu veredeln. Stinkiger Morast aus Blut und Menschenleibern besudelt den Mai. Gott, Natur, immanente Gerechtigkeit der Dinge — wie man es auch heisse, es möge Strafe und Rache bringen über die Verderber und Schänder und Heilung und Rettung für die Verderbten und Geschändeten! —