Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 20. November.

Vor einigen Tagen war Z. hier. Er kam vom Fürsten Bülow in Luzern. Gleichzeitig mit ihm waren anwesend der Fürst von X., Bankdirektor Y. aus Berlin. Es scheinen Geldgeschäfte gemacht zu werden. Wenn Z. den Wunsch äusserte, mit irgend einer französischen oder russischen Persönlichkeit sprechen zu wollen, so machte mir das den Eindruck, dass er es nur nebenbei tun wolle, gleichsam im Nebenamt. Dennoch gelang es mir durch Vermittlung des Amerikaners F., ihm eine Unterredung mit dem russischen Gesandten v. Bacheracht zu beschaffen. Der Gesandte war sehr bereitwillig. Mittwoch den 17. November fand diese Unterredung in dessen Privatwohnung statt. Der Diener nahm die Karte Z.’s nicht an. Mit den Worten «Sie werden erwartet», führte er ihn in den Salon. Die Bereitwilligkeit des Gesandten, Z. zu empfangen, erkläre ich mir damit, dass diesem irgendwie zu Ohren gekommen sein dürfte, dass Z. eben bei Bülow war. Er durfte glauben, Z. handle in irgend welchem Auftrag. Dies war nun keineswegs der Fall. Der Gesandte meinte auf die Frage Z.’s, ob der Krieg denn noch lange währen würde, dass dies wohl der Fall sein müsse. Er bedauerte den Krieg, meinte, Bismarck müsste sich im Grabe umdrehen, drückte auch die Meinung aus, dass auch Fürst Bülow es nie hätte dazu kommen lassen, und bezeichnete den Krieg als ein ungeheures Missverständnis. Wieder das unselige Wort «Missverständnis!» Z. machte dem Gesandten Komplimente, dass er jener altberühmten Generation russischer Diplomaten Gortschakoffscher Schule angehöre, die die freundschaftliche Tradition zu Deutschland pflegte. Der Gesandte machte wieder Z. Komplimente über die alte deutsche Diplomatie. Kurz, wieder das entsetzliche Bild, dass die Diplomaten in vornehmster, kultiviertester Weise miteinander verkehren können, während sich die Völker wie die Bestien hassen und vernichten müssen! Billardspiel mit Menschenleibern! —

Die Unterredung dauerte 3/4 Stunden.

Ach Gott! Die Herren, die das Spiel spielen, haben durchaus keine Eile. Und die Objekte des Spiels haben keinen Willen. Sie haben zu gehorchen, wenn sie nicht erschossen werden wollen. Und so wählen sie bei der Wahl zwischen dem sichern Tod auf dem Disziplinarwege und dem blossen Todesrisiko auf dem Schlachtfeld das Risiko. Sie gehen in die Schlacht aus Selbsterhaltungstrieb. Das ist die geniale Kombination des Militarismus. Er kann es sich daher leisten, die Überwindung der ungeheuersten und unmenschlichsten Beschwerden, die unter dem eisernen Zwang ertragen werden müssen, als herrlichste Dienstbeflissenheit auszulegen. So meldet das österreichisch-ungarische Kriegspressequartier, das irgendwo weit hinter der Front ein vergnügtes und anregendes Leben führt, aus Serbien unterm 18. November folgendes Stimmungsbild:

«Die Offensive in Serbien stellt an die vorrückenden Truppen nachgerade unerhörte Anforderungen. Der Winter lasst sich von Tag zu Tag strenger an; die Kolonnen, die im Gebirge vorstossen, müssen sich durch die hohe Schneedecke mühsam Wege schaufeln, die stets aufs neue verweht werden. Schneestürme, heftige Winde und beissende Kälte erhöhen die Schwierigkeiten des Vormarsches. In den Tälern sind manche der Hochwasser führenden Flüsse über die Ufer getreten, aber auch wo das nicht der Fall ist, bieten sich der Überquerung der vielen reissenden Wasser überall Hindernisse. Die meisten Brücken sind von den Serben auf dem Rückzug zerstört worden. Wohl arbeiten die technischen Truppen mit restloser Hingabe, aber die Arbeit, die sie unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen zu bewältigen haben, wächst ins Riesenhafte. Die auf der Talsohle den Flüssen folgenden Wege sind gänzlich grundlos. Der Vormarsch geht grösstenteils mit Gebirgsausrüstung vor sich, aber selbst mit dieser hält es schwer, vorwärts zu kommen».

Man kann sich denken, welcher Art unter diesen Umständen das Leben ist, wie die Menschen dabei an Strapazen und Krankheiten zugrunde gehen müssen. Aber nicht, um solche Gedanken auszulösen, wird dies mitgeteilt, sondern um Bewunderung für das Heldentum zu erwecken. «Umso grössere Anerkennung gebührt den Truppen, die jeden Tag den sich zäh verteidigenden Serben neuen Boden abgewinnen». So geht der Bericht weiter. Ich glaube, das Mitleid darüber, dass solche Strapazen nötig sind, wäre mehr am Platz als Anerkennung.

Die Schrecken des Winterfeldzuges machen sich in diesem Jahre mehr fühlbar, da selbst in unsern Gegenden der Winter schon so frühzeitig und scharf einsetzte, und weil zumeist in unwirtlichen und hochliegenden Berggegenden gekämpft wird. So in den berüchtigten Kältezonen Russlands, auf den Hochgebirgen der Tiroler Alpen und des Karsts, auf den Bergen des Balkans. Wer, der sein Leben und seine geraden Glieder behält, wird bei solchen Kämpfen seine Gesundheit behalten?

Und Treveylan, der ehemalige englische Minister, spricht angesichts solcher Verhältnisse von der Möglichkeit, dass der Krieg sechs Jahre dauern könne. Ja, er betrachtet diese Schätzung noch als sehr sanguinisch: «Wie wird es eine solche Zeit hindurch uns und der übrigen Welt gehen?» fragt er in der Sitzung des Unterhauses vom 15. November. «Ein Erschöpfungskrieg bedeutet für uns ebenso wie für Deutschland den völligen unwiederbringlichen Ruin». Darin mag Trevelyan Recht haben. — Wir haben den europäischen Militarismus immer als eine Krankheit bezeichnet, die Europa befallen habe. Als der Krieg ausbrach, betrachteten wir das Ereignis als die akute Krisis, aus der sich die völlige Gesundung ergeben könne. Vielleicht haben wir uns darin getäuscht. Der Krieg ist am Ende nicht die Krisis, sondern der Auflösungsprozess. Wir wohnen möglicherweise der Agonie unserer Kultur bei; diese Zuckungen und Krämpfe, die wir wahrnehmen, sind der Tod!!

Unweigerlich wird es so, wenn nicht im letzten Moment die Besinnung einkehrt. Es kann uns dann die Rettung kommen, wenn sich die Völker klar machen, was ihnen alles droht, wenn sie dem Irrlicht eines entscheidenden Sieges nachlaufen. Den gibt es nicht mehr; kann es nicht mehr geben. Entscheidender Sieg ist nur möglich bei voller Niederlage des Gegners. Einen der heutigen Gegner völlig niederwerfen zu wollen, setzt die eigene Vernichtung voraus. Deshalb ist ein solcher Sieg nicht möglich. Die Staaten führen den Krieg heute nur fort, weil sie diese Unmöglichkeit nicht begreifen. Und wenn ihnen nicht bald die Erleuchtung kommt, solange sie noch einen Zweck hätte, dann ist es das Ende Europas.