Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 9. Oktober.

Nach Tagen banger Spannung ist heute die Antwort Wilsons bekannt geworden. Sie enthält keine Zusage, aber auch kein Nein; und das ist schon viel, ist sehr viel! Wilson stellt Fragen. «Verfängliche Fragen mitunter.» Diese fordern eine Antwort. Somit ist der Gedankenaustausch im Gang. Das gewährt einige Hoffnung, wenn die Fragen Wilsons auch erkennen lassen, dasss noch schwere Hindernisse zu überwinden sein werden.

Die Hauptfrage sucht klarzustellen, ob die Reichsregierung die verschiedenen Punkte Wilsons annimmt oder bloß zur Grundlage von Besprechungen machen will. Aus der deutschen und österreichisch-ungarischen Note geht unzweideutig hervor, dass die Regierungen die Wilsonpunkte nur zum Ausgangspunkt von Verhandlungen nehmen wollen.

Die zweite Frage behandelt den Waffenstillstand und lautet Ob die Zentralmächte bereit sind, sofort alle

ihre Streitkräfte aus den besetzten Gebieten der alliierten Regierungen zurückzuziehen. Also nicht nur aus Belgien und Nordfrankreich, sondern auch aus Italien, Rumänien, Serbien und Montenegro.

Die dritte Frage ist nicht ganz klar: «Ob der Reichskanzler nur für die verfassungsmäßigen Behörden des Reiches spricht, welche bis jetzt den Krieg geführt haben.» Soll das heißen sprichst du namens des souveränen

deutschen Volkes oder namens der deutschen Militärautokratie? An die hier zu gebende Antwort kann sich vielleicht eine der wichtigsten Bedingungen knüpfen, die Bedingung, den souveränen Charakter der gegenwärtigen parlamentarischen Regierung für die Zukunft festzulegen.

Der Ton der Note ist höflich, sogar feierlich. Er vermeidet jede Verletzung. Deutschland kann, wenn es die Konsequenzen seiner Lage zieht, jetzt den Frieden haben. Freilich ein deutscher Friede mit dem siegreichen Schwert, ein Hindenburgfriede, der nach den noch vor einigen Monaten getanen Äußerungen des Feldmarschalls für den Gegner «nicht weich» sein werde, wird es nicht sein. Aber es kann der Weltfriede werden, wie ihn der Pazifismus sich vorgestellt, und wie ihn Wilson, jener Machthaber, der sich die Lehren des Pazifismus angeeignet hat, durchzuführen übernommen hat. Die

nächsten Tage werden zeigen, ob wir dem Ende der Weltprüfung nahegekommen sind. Mir will es scheinen.