Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Montreux, 11. Mai.

Die Äusserung der amerikanischen Regierung über die deutsche Antwortnote ist gestern veröffentlicht worden. Sie bedeutet noch nicht den Frieden zwischen diesen beiden Staaten, aber — was jetzt immerhin schon etwas heisst — sie bedeutet nicht den Krieg. Es spricht sogar ein starker Wille zur Vermeidung des Kriegs aus ihr, denn sie nimmt die deutsche Antwort, wie sie gegeben wurde, nicht als die geforderte Erfüllung der eigenen Forderung an, sondern legt selbst einen Inhalt hinein, der der amerikanischen Regierung genehm ist, und diese erklärt, sich mit dem Inhalt zufrieden zu geben. Wohl besteht die Gefahr, dass der auf diese Weise geschaffene Friedenszustand in die Brüche geht, sobald sich diese Selbstauslegung der amerikanischen Regierung als Täuschung erweis. Der Friede ist unsicher. Aber unendlich mehr wert ist dieser unsichere Friedenszustand als der sichere Kriegszustand. Nichts ist der Kriegsentwicklung gefährlicher als Zeitgewinn. Sollte der deutsch-amerikanische Konflikt vermieden werden, so wird diese Tatsache wieder einen Sieg der dilatorischen Methode des Pazifismus bedeuten, wie er anschaulicher nicht dargestellt werden kann. Man stelle sich doch vor, dass jene amerikanische Note vom 21. April nach europäischem Muster mit 48 Stunden befristet gewesen wäre! Was wäre geschehen? — Der blödsinnigste Krieg, den die Weltgeschichte erlebt hätte, wäre im Gange. Zunächst wären heute Milliarden deutschen Volksvermögens vernichtet, ganz abgesehen von dem, was noch kommen würde. Aber die Möglichkeit der Überlegung hat hüben wie drüben die Auswege finden lassen, die die Vernunft sucht. Und wenn es doch noch zwischen diesen beiden Staaten zu einem Krieg kommen sollte, so wird man wenigstens die Gewissheit besitzen, nichts unversucht gelassen zu haben, ihn zu vermeiden. Eine Genugtuung, die dem vernünftigen Zeitgenossen bei der Betrachtung des gegenwärtigen Weltzusammenbruchs heute fehlt.

Aber sollte die augenblickliche Überwindung des deutsch-amerikanischen Konflikts nicht noch andere Folgen haben, als jene, den Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen den beiden Staaten verhindert oder bloss hinausgeschoben zu haben? Wäre dieser Augenblick der Entspannung, der durch diese Kriegsvermeidung über die Welt gekommen ist, nicht geeignet, einen Stillstand der schrecklichen Vernichtung zu bewirken? Sollten nicht jetzt die europäischen Neutralen versuchen, einzugreifen? Das Gespräch Asquith - Bethman Hollweg hätte einen guten Anlass dazu gegeben, der aber infolge des sich entwickelnden Konflikts zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten nicht ausgenutzt werden konnte. Jetzt, wo dieser Konflikt für den Augenblick gelockert erscheint, wäre Gelegenheit gegeben, die Handhabe zu ergreifen, die in dieser Wechselrede der beiden Staatsmänner lag, und deren Fortsetzung zu bewirken.

Wird die Bedeutung dieses Augenblicks verstanden werden?

* * *

Mir fällt ein Zeitungsblatt von vorgestern in die Hände.

Die «Neue Freie Presse» vom 8. Mai. Darin ein Feuilleton von Oskar Blumenthal, das sich «Ein altes Zeitungsblatt» betitelt. Eine jener wehmütigen und wegen ihrer Wehmut so beliebten Plaudereien, wie sie im Wiener Feuilleton üblich sind, und wie sie Blumenthal, der Süd-Nord umfassende Satyriker, so meisterhaft vorbringt. Aber dieses Feuilleton hat eine ganz besondere Bedeutung für mich, für uns alle, die wir an dem Bau der Zukunft wirken. Es enthält eine Verächtlichmachung unserer Arbeit, will den Kredit schmälern, den ihr der Weltkrieg mit täglich wachsender Steigerung bereitet, will den Pazifismus einem, für den Versuch dankbaren Publikum lächerlich machen. Jetzt noch lächerlich machen, wo seine Vernachlässigung mit einem Meer von Blut bestraft wird.

Mein verehrter Herr Doktor Blumenthal, Sie wissen gar nicht, wie veraltet diese voraugustische Mode ist!

Der Feuilletonist schildert uns, wie er in alten Papieren kramt und eine Zeitungsnummer findet, die das Datum des 31. August 1913 trägt. Sie ist «ganz und gar ausgefüllt mit einem Bericht über die feierliche Einweihung des Friedenspalastes im Haag». — Der Feuilletonist nennt das eine «Niedertracht des Zufalls». — Schonungsvoll ist er, das muss man gestehen; denn er nennt nicht den Verfasser jenes Berichts. Ich muss dies dankbar anerkennen, denn ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, dass dieser Bericht von mir herrührt. Die daraus angeführten Gedankengänge sind ganz sicher die meinen.

Der Feuilletonist schreibt Folgendes über jenen Artikel:

«Der Bericht ist von einer Stimmung feierlicher Ergriffenheit erfüllt. Den Verfasser beherrscht offenbar das Gefühl, dass er einer weltgeschichtlichen Stunde als Zeuge beigewohnt und einen Festtag der Menschenliebe erlebt hat, der von Ewigkeitsgedanken getragen wurde. Der Hochklang seiner Worte trifft uns heute noch wie ein fernes Glockenläuten. Gerade hundert Jahre nach dem grossen Völkerringen, das sich auf der Ebene von Leipzig abgespielt hätte, seien die Vertreter aller Staaten zu einem Fest zusammengeströmt, das kommenden Geschlechtern die Verwirklichung von Träumen der Menschenfreunde, Staatsmänner, Dichter und Philosophen in Aussicht stelle. Die Zeit sei vorüber, in der man über die Friedensbewegung mit geringschätzigem Spott gesprochen hätte. Denn was auf diesem Gebiet erreicht worden sei, liefere den unanfechtbaren Beweis, wie tief die Friedensidee im Bewusstsein der Völker Wurzel geschlagen habe. Die von allem Glanze der Hoheit und Würde umleuchtete Eröffnung des Friedenspalastes zeigt in einem weithin strahlenden Bild, dass die Gedanken der Friedensfreunde bereits ein internationales Gemeingut geworden wäre ...»

So der Inhalt jenes Artikels nach dem zusammenfassenden Bericht des Feuilletonisten, der dann resigniert hinzufügt: «Und nur ein Jahr später steht die Welt gewappnet in einem Kampf, der nach und nach die ganze Weite der Erde mit einem Flammenkreise des Hasses umgürtet hat.» Und die Nutzanwendung dieses Feuilletons über ein «altes Zeitungsblatt?» — «Illusionen», «gläubiges Menschheitsvertrauen», verabschiedet «auf Nimmerwiedersehn», «Aufpflanzung der Hoffnung noch am Grabe», ... «Wir können es nicht bereuen, dass wir uns einst dem Optimismus der Friedensfreunde gern hingegeben und ihre Zukunftsbilder nicht bloss für schöne Luftspiegelungen gehalten haben». — Dann kommt der Vorschlag, man solle den «Friedenstempel» im Haag zu einem Genesungsheim für Kriegsbeschädigte aller Nationen verwandeln. —

Welch interessanter Stoff für die Wiener Kaffeehausbesucher, Herr Blumenthal! Welch feine Witterung bezeugen Sie mit dieser Ausgrabung aus vergilbten Papieren des Jahres 1913. Was kann für diese «grosse Zeit» wirkungsvoller sein als eine Lächerlichmachung der Friedensbewegung? Aber gerade diese Einrichtung der Vernunft erscheint Ihnen geeignet, einen Widerspruch zu konstruieren? Gibt es deren nicht noch andere, mehr in die Augen springende, bezeichnendere Widersprüche?

Sie sollten einmal die Berichte über die Monarchenzusammenkünfte der letzten Jahre, Monate, ja Wochen vor dem Kriege lesen, die dabei gehaltenen Reden, die Berichte über die dabei gewechselten Küsse und Umarmungen, verteilten Orden und Auszeichnungen! Sie sollten sich einmal der Mühe unterziehen, die Parlamentsberichte der letzten Jahre durchzusehen, und die Minister und Parlamentarierreden zu lesen, womit in allen Ländern die ungeheuren Mehrforderungen für die Rüstungen als unfehlbares Friedensmittel begründet wurden. Was glauben Sie, Herr Doktor, welch gewaltigen Stoff Sie darin fänden, um wehmutsvoll und spöttisch von «Illusionen» und «gläubigem Menschheitsvertrauen» zu sprechen.

Sie haben sich für Ihre Betrachtungen, das heute in den kriegführenden Ländern vielleicht einzig zulässige, der Zustimmung einer urteilslosen Masse wohl sicherste Vergleichsobjekt ausgesucht, aber, glauben Sie mir, auch das unzutreffendste, das am meisten windschiefe.

Denn, sehen Sie: Nicht, dass man im Jahre 1913 einen Friedenspalast hoffnungsfroh eingeweiht hat, ist das Widerspruchsvolle, ist die «Niedertracht des Zufalls», sondern dass ein Jahr darnach die Heere der Kulturwelt zur Vernichtung gegeneinanderstehen konnten, darin liegt der Anachronismus. Sie übersahen etwas Wichtiges, als Sie daran gingen, die Friedensarbeit zu bemitleiden, sie dem grinsenden Spott der Allzuvielen preiszugeben: Dass dieser furchtbare Krieg letzten Endes nur um die Erhaltung, um die Festigung jenes Werkes geführt wird, für das der Haager Friedenspalast nur ein Symbol ist!

Die Eröffnung jenes Hauses war nicht die Illusion, die Sie zu Grabe tragen wollen mit umflortem Hut und konventionellen Tränen. Die Illusion ist dieser Krieg, der von jenem absterbenden, jetzt in der Agonie liegenden, Europa hervorgerufen wurde, das sich der Täuschung hingab, in dieser Welt der engsten Verquickung aller Interessen und der tiefsten wechselseitigen Abhängigkeiten herrsche noch unbeschränkt das Gesetz der rohen Gewalt. Lächeln Sie nicht mehr wehmütig über die Friedensbewegung, weinen Sie nicht um den Schiedspalast im Haag! Ihr Gesicht täuscht Sie! Dieser Schiedspalast ist das einzig intakte gebliebene in dieser Katastrophe, ist der einzige Notsteg für die Zukunft. Noch mitten im Krieg hat die deutsche Regierung zweimal ihre Bereitschaft erklärt, sich vor sein Tribunal zu stellen. Und nach dem Krieg wird von jenem Haus am Scheveninger Strand der Odem ausgehen, der den zerfetzten Leib der europäischen Menschheit erneuern wird.

Was Ihnen heute als die «Illusion» von gestern erscheint, ist die starke Wirklichkeit von morgen. Der Krieg wird um die Geltung dieses Hauses geführt, es wird das Rückgrat der neuen Welt werden, und Sie werden umsonst geweint und vergeblich gespottet haben.