Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. Mai.

Heute vor zwanzig Jahren. Da waren wir ein kleines Häuflein Weitschauender im Haag versammelt. Einige Gläubige unter der Schar der überlegen lächelnden Diplomaten und Völkerrechtsjuristen. Heute vor zwanzig Jahren schritten wir hinaus zum «Haus im Busch», wo neben einem Dutzend Journalisten der Baronin Suttner und mir auf der baufälligen Brüstung unter dem Kuppeldach des Hauptsaales ein Stehplatz eingeräumt war. Wir kletterten über die Bodenstiege, über Balken und Sparren. Unten glänzten die Uniformen und die schwarzen Gehröcke der Delegierten von 26 Staaten. Einige von ihnen waren bereits von der Vernunft der Idee erfasst. Andere, darunter die deutschen Delegierten, noch weit hinter ihr zurück. Beaufort sprach das Wort «Ich eröffne die Friedenskonferenz.» Das packte uns, die Suttner und mich; denn es gab eine Bewegung, die der Konferenz diesen Namen streitig machen wollte. Damals war einer jener Momente, wo die Menschheit dem Weltgeist näher war als sonst. Aber weder Graf Münster, Oberst Schwarzhoff, Professor Zorn noch ihre Auftraggeber Bülow, Hohenlohe, der Kaiser hatten den Augenblick erfasst. Sie schlugen den falschen Weg ein, der das deutsche Volk nach zwanzig Jahren nach Versailles führte.

In Deutschland nimmt die Protestbewegung gegen den Versailler Frieden großen Umfang an, während die deutsche Friedensdelegation Note auf Note an die Alliierten ergehen lässt. Abgesehen von den Unabhängigen, die für die Unterzeichnung eintreten, lautet die Parole «ablehnen». Ich glaube, dass das eher als taktisches Manöver angesehen wird, denn als wahre Absicht. Man hofft durch die Drohung mit Ablehnung auf bedeutende Milderung des Vertrags. In Wirklichkeit wäre ja der Entente die Ablehnung mit dem Zwang zur Wiederaufnahme des Krieges sehr unangenehm. Ihre Völker wären nicht leicht in guter Stimmung zu erhalten, müssten sie jetzt, nach sieben Monaten sehnsüchtiger Friedenserwartung, von neuem Krieg führen. Aber auch die Lage des deutschen Volkes würde so verzweifelt sein, das an ein längeres Durchhalten in der Opposition gegen die Friedensbedingungen nicht zu denken ist. Und nur wenn es gelänge, den Friedenschluss noch einige Monate hinzuziehen, könnte auf eine Auflehnung bei den Ententevölkern gerechnet werden. Das ist unmöglich! Darum werden die Proteste nicht viel nützen. Das wenige, das einfach durch Bluff erreicht werden kann, hat keine Bedeutung. Ein Frieden, den die Menschheit braucht, der nicht nur diesen Krieg beendigt, wird das Versailler Instrument doch nie werden. Es wird immer ein Kriegsschluss bleiben wie alle bisherigen Friedensschlüsse, ein einfaches Umschalten des akuten Kriegs in einen latenten. Erst wenn der Abschluss des Kriegs vollendet ist, wird man den Frieden, den wirklichen Frieden, erarbeiten müssen. Es wird jahrelanger Arbeit bedürfen, um das Werk errichten zu können. Ein Irrtum war es, wenn man glaubte, dass man nach diesem Krieg, unter dem Druck einer sieghaften Partei, zum Frieden gelangen könne. Das wird erst möglich sein, wenn sich das gesamte Leben aller Völker auf das Normale eingestellt haben wird und die Erinnerung an die Leiden verblasst der Elan des Siegs unter der Nachwirkung des Kriegs, dem auch die Sieger ausgesetzt sein werden, sich gelegt haben wird. Ich habe bereits im Januar, als die Beratungen in Paris noch gar nicht begonnen hatten, die Revision des Versailler Friedens» (in meinem Artikel im Wiener «Abend», 13. Januar) für notwendig erklärt. Sie wird kommen, diese Revision, sie muss kommen, darum ist es gleichgültig, ob man jetzt den Vertrag ändert oder nicht.

Kleine Änderungen haben keine Bedeutung, und grundsätzlich kann jetzt nichts geändert werden.

Es wird uns eine Bilanz geliefert über die deutschen Kriegsverluste. Es wurden gemeldet als tot 1 676 696, als vermisst (von denen neun Zehntel als tot betrachtet werden müssen) 373 770, so dass ein Gesamtverlust an Toten von über 2 Millionen angenommen werden muss. Verwundet wurden gemeldet 4 207 028. In feindlicher Gefangenschaft schmachten noch 615 922.

Das ist aber noch nicht alles. Die Rechnung erweitert sich noch um vieles.

Als tot gemeldet 1 676 696

Neunzig Prozent der Vermissten 336 400

Fünfundzwanzig Prozent der Verwundeten, die vorzeitig sterben werden 1 051 757

Tod von Zivilpersonen infolge der Blockade 763 000

Geburtenausfall 4 000 000

Durch Not, Gram, Revolution, Selbstmord, durch Schiffbruch, Unfälle, Verbrechen Gestorbene, schätzungsweise 500 000

Also für Deutschland allein durch den Krieg getötete und nicht geborene achteinhalb Millionen Menschen.

Angesichts dieser unerhörten Verbrechen muss immer die Frage aufgeworfen werden, ob im Juli 1914 genug geschehen ist, diesen Massenmord zu verhüten? Wäre der glänzendste Sieg dieser Opfer wert gewesen? Muss nicht die Politik der Menschheit einzig darauf gerichtet sein, wie sie sich gegen den Krieg verteidigt und nicht, wie sie durch Krieg weiterleben und sich entwickeln soll. Wer noch weiter mit der Kombination Krieg denkt, muss aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen werden.