Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. Oktober.

Es liegt so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit in der Luft. Ludendorff stürzt, und Lammasch wird Ministerpräsident. Mit Lammaschs Emporsteigen zum höchsten Beamten tritt das ein, was ich jahrelang, jahrzehntelang vorausgesehen und vorausgesagt habe. Man wird einst bei uns Pazifisten die Rettung suchen. Nur hat man es zu spät getan. Was nützt es, wenn man den Pazifisten Lammasch zum Retter des sterbenden Österreichs beruft. Als er noch hätte nützen können, da hat man ihn verlacht, vorher hatte man ihn sogar verfolgt. Zu Beginn des Kriegs hat das Hauptquartier angeregt, man solle ihn verhaften. Es gab doch einige, die sich vor dem Ausland schämten. Deshalb nahm man Abstand davon. Und noch in diesem März, im Herrenhaus, warf man ihm vor, er wäre von der Entente bezahlt. Herr Pattai brüllte sein Annexionsprogramm in den Saal mit dem wunderschönen Schluss «Unser der Sieg, unser die Palme!» — Da habt ihr nun die Palme. Möge Lammaschs Wirkung als letzter Minister des alten Österreichs den Erfolg haben, den Betörten wenigstens klarzumachen, was sie versäumt haben. Ihr ruft uns zu spät!

Es ist der Zusammenbruch der Monarchie. Lammasch soll dem Tscheschenführer Kramarz ein Portefeuille angeboten haben. Dem vor kurzem noch zum Tod verurteilt gewesenen Hochverräter! So sah ich’s kommen. Auch das zu spät. Kramarz lehnte ab, weil das tschecho-slowakische Volk sich heute im Kriegszustand mit der Monarchie befindet. Aus was besteht denn Österreich-Ungarn heute noch? Aus Völkern, die Feinde des Staates geworden sind.

Die Italiener beginnen eine blutige Offensive. Krieg um des Krieges willen. Militärkrieg. Jetzt wo die Kampfhandlung doch keinen politischen Zweck mehr haben kann, werden noch Tausende von Menschenleben geopfert, um das militärische Ansehen zu retten. Aber heute sind es die Italiener, morgen stehen die Serben mit Engländern und Franzosen an der ungarischen Grenze. Auch die erschlagenen Rumänen rühren sich und rücken gegen Österreich-Ungarn vor. Wird das Hallali abgewendet werden?

In Ungarn herrscht die Revolution. Der Pazifist Karolyi hat die Führung der Massen. Ein Arbeiter und Soldatenrat ist nach russischem Muster errichtet worden. Die Zeitungen haben sich gegen die Zensur aufgelehnt und erscheinen unzensiert. Auch hier bricht der alte Feudalstaat zusammen und soll neuen glücklicheren Verhältnissen Platz machen. Karolyi hatte zur rechten Zeit eine Loslösung von Deutschland verlangt. Jetzt ist es auch hier zu spät. Zu spät auch in dem Sinn, dass die Loslösung von dem neuen Deutschland vielleicht gar nicht mehr wünschenswert erscheint.

Wird Deutschland der neue demokratische Staat, warum soll man sich von ihm loslösen? Ich habe das Deutschland der wild gewordenen Militaristen, der Welteroberer, der borniertesten Autokratie bekämpft. Heute? Wenn sich der neu gegründete deutsch-österreichische Staat nicht erst lange mit dem Versuch aufhalten würde, das zerfallende Österreich neu zu vereinigen, sondern kurz entschlossen dem neuen deutschen Reich angliedern wollte, würde ich es für das klügste halten. Das demokratische Deutschland ist nicht mehr der Feind der Menschheit. Das deutsche Volk wird nach der Befreiung vom deutschen Militarismus ebenso aufatmen wie alle übrigen Völker der Welt. Wir Deutsch-Österreicher gehören zum deutschen Volk und haben gar keinen Grund mehr, draußen zu bleiben, nachdem unsre Stellung im österreichischen Staat jeden Boden verloren hat.

Der Kaiser wurde in den letzten Reichstagsdebatten stark angegriffen. Noch immer gab es entrüstete Pfuirufe, noch immer Ordnungsrufe für jene Angreifer, die nur den Zorn des Volkes zum Ausdruck brachten. Wie kann man sich gegen diesen nur selbstverständlichen Wunsch auflehnen, das Wilhelm 11. verschwinde? Er ist der Schuldige an diesem Weltzusammenbruch, auf ihn lastet die Verantwortung des schrecklichsten Unglücks, das die Menschheit je betroffen. Er muss seinen Platz verlassen. Es ist für Wilhelm kein Raum mehr in einem Volksstaat. Und selbst jene, die noch immer nicht an seine Schuld glauben, müssen sich sagen, dass er als Teilnehmer an dieser groBen Katastrophe als einer, der am Anfang dabeigewesen, verschwinden müsse. Solange diese Notwendigkeit nicht vollzogen, steht ein Hindernis in der Struktur des neuen Deutschland, der neuen Welt.

Heute in Budapest wurde bereits geschossen. In Prag hat der tschechische Nationalrat die Regierung übernommen, und die jubelnde Menge hat die Abzeichen des alten Staats, die alten Doppeladler, von den Gebäuden abgerissen, zerbrochen, verbrannt und in die Moldau geworfen.

Mein geistiges Auge schweift wehmütig in die Tage des Kriegsanfangs zurück. Am 27. August schrieb ich hier die Verse aus der Kassandra ein:

«Ich allein muss einsam trauern,

Denn mich flieht der süße Wahn,

Und geflügelt diesen Mauern Seh’ ich das Verderben nah’n.»

Meine Ahnungen von damals haben sich, leider, erfüllt.