Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Wengen, 28. Juli.

Drei Jahre! Drei volle Jahre Weltunheil! Und zu diesem Fürchterlichen als Krönung das Bewusstsein, dass das Ende noch nicht erkennbar. Noch mehr: dass mit der Verlängerung des Kriegs die Vernichtung noch steigern muss. Es ist die Verzweiflung, die den Endkampf kennzeichnen wird.

Drei Jahre! Das bitterste davon ahnen die meisten Menschen noch nicht. Sie hoffen immer noch, dass nach dem Ende ein Zustand kommen muss, der, weil er Friede genannt wird, eine Ähnlichkeit mit jener menschenwürdigen Periode besitzen muss, die wir vorher durchlebt haben. Sie wissen nicht, dass von einer Wiederkunft jener Zeit für das lebende Geschlecht und für die im nächsten Menschenalter zur Welt kommenden, keine Rede mehr sein kann. Was nach diesem Krieg kommt, ist nicht etwa das feste Land, das Schiffbrüchige aufnimmt; es ist lediglich ein Floß, Treibholz, vielleicht ein kleines Boot, das ihnen Halt bietet, um die Rettung erwarten zu können, ohne Sicherheit, dass sie auch wirklich kommt. Das wird der Friede sein, den wir zu erwarten haben. Nur die Sicherheit vor dem sofortigen Untergang wird er uns nehmen, und die Möglichkeit auf Rettung wird er uns geben. Noch nicht die Rettung selbst. Schiffbrüchige werden wir sein, wenn dieses Unheil in seinem ersten, akuten Stadium vorüber ist. Schiffbrüchige; noch nicht Gerettete.

Nach der Überwindung des ersten Frohlockens über die gebotene Rettungsmöglichkeit wird die Menschheit die ganze Trostlosigkeit ihrer Lage erkennen, mit Entsetzen gewahr werden, dass mit dem Friedensschluss das Elend dieses Kriegs noch lange nicht überwunden ist. Es wird fortgetragen werden müssen durch die Jahrzehnte, fortgetragen bis neue Menschen, die in ihrem Sinn keinerlei Verbindungen mit der durch diese Jahre des Kriegs hindurchgegangenen Menschheit mehr besitzen, die Welt von neuem errichtet und eingerichtet haben werden. Diejenigen, die heute leben, und seien sie im zartesten Kindesalter, werden diese neue Welt nicht mehr sehen. Es wird eine Generation auf Erden weilen, deren Aufgabe es sein wird, auf Gräbern zu trauern, auf Trümmern zu wandeln, und mit müden Händen den Schutt wegzuräumen, der die Arbeitsstätten bedeckt.

Drei Jahre! Es erübrigt sich, die Bilanz zu ziehen. Heute hofft keine der ringenden Mächte auf das, was sich die militärische Geistesbeschaffenheit einmal als Sieg vorgestellt hat. Sie erblicken den Sieg nur mehr darin, als der weniger Vernichtete aus dem Unternehmen hervorzugehen. Die Errungenschaften um den Preis der Weltvernichtung bestehen für sie darin, dass der andere noch mehr geschädigt ist als die eigne Gruppe. Sie ahnen ja nicht, dass die Schädigung der anderen auch die ihre ist, dass sie zu dem eigenen Elend, das sie zu tragen haben werden, noch das Elend der andern werden mittragen müssen. Der Weltzusammenhang, den sie nicht erkannt hatten, als sie um Friedensbedingungen weiterkämpften, die ihnen einen Sieg bringen müssen, der wird erkennbar werden in der Gemeinsamkeit der Last, die der Niedergang Aller auf jeden Einzelnen legen wird.

Sie haben diesen Krieg herbeigeführt aus Irrtum. Weil sie die Weltzusammenhänge noch nicht erkannten. Dieser Krieg ist möglich geworden, weil das Denken sich nicht in gleichem Maß entwickelt hatte, wie das technische Können. Die Entwicklung der Menschheit war einseitig. Die geistige blieb hinter der technischen zurück. So wurden dann die genialen Errungenschaften der Technik Mordwerkzeuge in den Händen Unmündiger. Statt zur höchsten Vollendung des Menschentums führte diese Ungleichmäßigkeit der Entwicklung zum Selbstmord.

So betrachtet wird dieser Krieg zur traurigsten Katastrophe der Menschheit. Er hat nicht nur die lebende Generation getroffen, er hat den aufstrebenden Schaft des Menschheitsbaums geknickt.

Das ist das Fazit der verfluchten drei Jahre.