Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 24. Mai.

Die Reichskanzler-Äusserungen leiden an Übermass von Ungeschick. Sie gleichen dem Queue-Stoss eines ungeschickten Billardspielers, der den Ball immer in eine andere Richtung schiebt als er beabsichtigt. So wird auch das dem «New York Herald» gegebene Interview des Reichskanzlers, das eine Antwort bildet auf das jüngste amerikanische Interview Greys, keine Annäherung, sondern eine weitere Entfernung der Kriegführenden bedeuten.

Während Grey gegen die landläufigen Anschauungen der Sozialdarwinisten sprach, die den Krieg als eine Wohltat und etwas Wünschenswertes bezeichnen, und seine Hoffnungen auf den Sieg der pazifistischen Anschauungen setzte, die die Überwindung des Kriegs durch diplomatische Mittel, durch internationale Konferenzen und schiedliche Entscheidungen durchsetzen will, hebt der Reichskanzler wiederum die militärische Auffassung hervor. Jene Ideen, die in jedem Mittel zur friedlichen Beilegung eine Schwächung der militärischen Schlagfertigkeit erblicken, und die jeden, auf solche Art der friedlichen Beilegung dienenden Versuch, als einen Hinterhalt ansehen. «Wie konnte Deutschland den englischen Vorschlag (auf Zusammentritt einer Konferenz) annehmen, angesichts der umfangreichen Mobilisierungsmassnahmen Russlands?» fragte der Kanzler. Und er fügte hinzu: «Uns war genau bekannt, dass die russische Regierung bereits mit der Mobilisierung begonnenen hatte, als Greys Konferenzvorschlag erfolgte. Wenn nach Verhandlungen von zwei bis drei Wochen, während Russland mit der Truppenansammlung an unserer Grenze fortfuhr, die Konferenz scheiterte, hätte England uns dann vor der russischen Invasion bewahrt?»

Ich will ganz absehen von der Untersuchung, ob die Nachrichten richtig waren, ob Russland wirklich schon mobilisiert hatte, als Greys Konferenzvorschlag vorgebracht wurde, ob, wenn die Mobilisierung Russlands durch einen Einhalt der Mobilisierung Österreich-Ungarns nicht hätte verhindert werden können, nicht durch eine Verlängerung der Frist des an Serbien gestellten Ultimatums das russische Vorgehen vermieden worden wäre, will mich vielmehr auf die Frage beschränken, ob die russische Mobilisierung wirklich jene Gefahr war, die es ganz unmöglich gemacht haben soll, das vorgeschlagene Mittel des diplomatischen Ausgleichs wenigstens zu versuchen. Schliesslich konnte trotz der sofortigen Kriegserklärung seitens Deutschlands die russische Invasion nicht aufgehalten werden, und schliesslich gelang es trotzdem, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo die russische Mobilisierung schon vollendet war, die anrückende Macht Russlands kraftvoll zurückzudrängen. So wäre der Versuch einer friedlichen Beilegung durch eine Konferenz wohl erwägbar gewesen. Aber es waren die militärischen Einflüsse, die einem solchen Versuch immer abhold sind, jene Erwägungen, die nur das strategische Moment ins Auge fassen und denen gar nicht zusteht, zu erwägen, ob es ausserhalb der militärischen Mittel noch etwas gibt, das schliesslich die Ausschaltung der militärischen Aktion ermöglichen könnte. Es ist ja nur zu klar, dass dem Militär bei seinem Handeln Raschheit und die dadurch gegebene Möglichkeit des Überraschens, des Zuvorkommens nützlich erscheint. Er wird daher immer für die Beschleunigung des militärischen Eingriffes eintreten. Daraus entsteht nun jene Angst vor allen Friedensmitteln, die durch die erwünschte Raschheit der Aktion notgedrungen beeinträchtigt werden müssen. Wenn es nun gelingt, die rein militärische Beurteilung eines Konflikts durchzusetzen, dann sinken alle Friedensmöglichkeiten in Ohnmacht, denn vom militärischen Standpunkt haben die Verächter des Verhandelns und Vermittelns recht. Aber der Krieg ist ein Mittel und nicht Selbstzweck. Er soll angewendet werden, wenn alle andern Mittel versagen. Wenn man aber diese andern Mittel verabscheut, weil dadurch das Mittel des Kriegs beeinträchtigt werden könnte, dann hört der Krieg auf, ein Mittel zu sein. Die Politik wird ihm untergeordnet, und man erledigt die politischen Fragen nicht nach dem Gesichtspunkt des Friedens, sondern nur nach dem Gesichtspunkt des Kriegs. Wohin führt das? Zum höchsten Misstrauen, zur dauernden Erhöhung der Rüstungen, zur ewigen Unsicherheit, kurz — zum ewigen Krieg.

Und diese Methode ist es eben, die Europas Unglück seit einem Menschenalter bildet, und die man ausmerzen muss, wenn man auf diesem unglücklichen Erdteil zu einem wirklichen Frieden gelangen will. Und wenn der Reichskanzler es jetzt noch als ganz richtig bezeichnet, dass man im Juli 1914 von einer Verständigung nicht reden konnte, weil militärische Gesichtspunkte es als angebracht erscheinen liessen, sich damit nicht erst aufzuhalten, sondern gleich loszuschlagen, so beweist er damit, dass er für eine Abkehr von dieser gefährlichen Methode noch nicht gewonnen ist. Solange die Angst vor den Friedensmitteln vorherrscht, werden wir weder zu einer Beendigung dieses Kriegs noch zu einem wirklichen Frieden kommen.

Im Mai 1899 äusserte sich Graf Münster, der Führer der deutschen Delegation auf der Haager Konferenz, als solch ein Gegner der friedlichen Mittel. Schiedsgerichte, sagte er, wären für Deutschland nur schädlich. Deutschland wäre auf den Krieg vorbereitet wie kein anderer Staat; Deutschland könnte sein Heer in zehn Tagen mobil machen, wozu weder Frankreich noch Russland, noch irgend ein anderer Staat imstande sei. Das Schiedsgericht würde aber jeder feindlichen Macht Zeit geben, sich in Bereitschaft zu setzen, demnach brächte es Deutschland mehr Nachteil. — — Das sind nun jene militärischen Gesichtspunkte, die Deutschland das Haager Werk als eine Gefahr erscheinen und ihm mit Nachdruck entgegentreten liessen, sind die selben Ansichten, die im August 1914 den Ausschlag gaben. Das ist die Unterordnung der Politik unter rein militärische Gesichtspunkte und eben das, was man als deutschen «Militarismus» bezeichnet. Nicht die Organisation der Armee, ihre Stärke und Entwicklung, sondern ihr politischer Einfluss auf die Gestaltung des zwischenstaatlichen Neben- und Miteinanderlebens wird mit jenem Schlagwort von den gegnerischen Staaten verstanden. Und diese Rolle der Armee widerstrebt der Errichtung eines europäischen Staatensystems mit Einrichtungen für Konfliktsschlichtung, mit Rüstungsvereinbarung, mit jener Sicherheit, die Europa Ruhe und Kraft zur Kulturarbeit gewähren würde.

Das ist es, was der Reichskanzler noch immer nicht einsehen will.

Seine Erklärung, dass das Reich für eine solche Gestaltung kein Hindernis mehr sein wolle, sondern ein starker Förderer, wäre ein wertvolleres Faustpfand für einen günstigen Frieden, als der Besitz Belgiens, Polens und Serbiens. Diese Erklärung würde auch das sofortige Ende des Kriegs bedeuten.