Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 6 August.

Warschau! — Schon gestern Abend drang die Nachricht bis hieher. Das ist eine grosse Etappe des Krieges. Wird sie die Möglichkeit zu dessen Ende bieten? — Deutschland hat nun seine Kraft nach jeder Richtung bewiesen, wird es auch diplomatisch auf der Höhe sein? Jetzt wäre der günstige Moment, durch grosszügiges Entgegenkommen, einen günstigen Frieden zu schliessen. Nur jetzt. Sollte der Krieg durch masslose Ansprüche Deutschlands weiter geführt werden, dann kann alles wieder verloren werden. Nur zweifle ich daran, dass diese Einsicht durchbrechen, dass vor allem ein Staatsmann mit der nötigen Autorität sich geltend machen wird, um die durch diese Erfolge aus dem Häuschen geratenen Kriegs- und Expansionsparteien zur Besinnung zu bringen.

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Die Naivität der militaristischen Denkweise kommt so recht in einer Mitteilung zum Ausdruck, die die «Neue Zürcher Zeitung» als «aus autorisierter russischer Quelle» (wahrscheinlich von der Berner Gesandtschaft) stammend, heute veröffentlicht. Darin wird die Bedeutungslosigkeit der Räumung Warschaus erklärt. Sie wäre «nur eine Episode im allgemeinen Rückzug», der aus Zweckmässigkeitsgründen angetreten werde. Russland werde jedoch bald in der Lage sein, siegreich vorzudringen. So etwas würde sich doch ein Penäler schämen, als Ausrede zu gebrauchen. Wie gering müssen diese Leute von der öffentlichen Meinung denken, wie müssen sie die allgemeine Urteilskraft einschätzen, wenn sie so etwas amtlich zu verkünden wagen. Haben sie denn vergessen, wie sie die Räumung Przemyls und Lembergs durch die Österreicher feierten, wie sie darob Tedeums abhielten, während sie die eigene Räumung Warschaus nur als nichtssagende Episode hinstellen. Blödsinn, der von neuem zeigt, mit wie wenig Verstand noch immer die Welt regiert wird.

Nicht viel anders stellen sich die neuerlichen Veröffentlichungen aus belgischen Archiven dar, mit denen die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» wieder den Kriegsausbruch von 1914 mit der Betätigung König Eduards VII. von 1906 und 1907 rechtfertigen will. Briefe belgischer Gesandter in europäischen Hauptstädten sind es, die die Handhaben dazu liefern sollen. Wir wissen heute nicht, welche Geisteskinder jene belgische Diplomaten waren, nur soviel wissen wir, dass König Eduard VII. mit dem österreichischen Ultimatum an Serbien und der hartnäckigen Weigerung der österr.-ungarischen Regierung, die serbische Antwort darauf zur Grundlage einer Unterhandlung zu machen, absolut nichts zu tun hat. Jene Unterhandlung, die Grey unterstützt und zu der Russland bereit war, hätte das Blutbad von heute verhindert. Das post hoc ergo propter hoc ist noch nie unangebrachter verwendet worden als mit der Hereinziehung des verstorbenen Britenkönigs in dieses Unglück. Er möge die verwerflichste Politik getrieben haben, wirklich so verwerflich wie die zur Abfassung von Colportage-Romanen eher als zur Geschichtsschreibung befähigten Inspiratoren der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» es darzustellen belieben, seine Politik war überwunden. Sie hatte eine Politik der Verständigung und des Ausgleichs mit Deutschland gezeitigt, die die seit der Annexionskrisis Europa bedrohende Gefahr stets verhinderte. So 1909, 1911, 1913. Sie wollte auch die Krisis von 1914 ehrlich überwinden helfen. Wenn nun die Geschichtsschreiber der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» bei der Darstellung der durch König Eduard VII. gegen Deutschland geführten Politik auf die II. Haager Konferenz hinweisen, und darüber sagen, dass sie «mit grossen humanen Prinzipien arbeitete, im wesentlichen aber zu vorsichtigen Kompromissen führte, die demjenigen, der das Spiel hinter den Kulissen verfolgen konnte, keine Zweifel darüber liessen, dass England bemüht war, sich freie Hand für eine Angriffspolitik zu sichern, während Deutschland daran festhielt, sich seine Verteidigungsmittel nicht aus der Hand winden zu lassen», so unternehmen sie hiermit den Versuch, die Tatsachen zu verdrehen und gleichzeitig jene Vorgänge zu verdunkeln, für welche gerade Deutschlands Diplomatie eine schwere Schuld trifft. So plump darf man sich doch nicht selbst einschätzen, uns glauben zu machen, dass England eine von allen Staaten der Erde beschickte Konferenz dazu hätte benützen wollen, um «sich freie Hand für eine Angriffspolitik zu sichern», und «Deutschland seine Verteidigungsmittel aus der Hand zu winden». Gemeint ist damit der Versuch Englands, auf der zweiten Haager Konferenz zu einer Vereinbarung über eine gemeinsame Einschränkung des Rüstungswettbewerbes zu gelangen. Wohlgemerkt, zu einer «gemeinsamen», das heisst zu einer gleichzeitigen und alle Teilnehmer gleichmässig berührenden Verminderung der Lasten, die für keinen eine Beraubung der Verteidigungsmittel bedeutet hätte. Von einer Abrüstung oder gar nur von der Abrüstung Deutschlands allein war nie die Rede. Wer glaubt denn noch immer, solche Ammenmärchen auftischen zu dürfen? Aber die Hauptsache ist, dass dieser Versuch Englands mit der zweiten Haager Konferenz gar nichts zu tun hatte; denn England hatte sich auf Wunsch Deutschlands dazu einverstanden erklärt, das Rüstungsproblem nicht zur Erörterung zu bringen. Es kam lediglich zu einer feierlichen Darlegung der Grundsätze, wobei von vornherein die Diskussion ausgeschlossen wurde. Das Rüstungsproblem war beseitigt, als die zweite Haager Konferenz begann; es konnte sich daher dort niemals darum gehandelt haben, Deutschland seine «Verteidigungsmittel aus der Hand zu winden». Wohl hat aber die Haltung der deutschen Delegation auf dieser Konferenz dazu beigetragen, jene Stimmung zu erzeugen, die Deutschlands politische Isolierung verstärkte. Durch diese von Deutschland selbst verursachte Wirkung trat erst jener Zustand ein, der die Politik Eduard VII. als eine gegen Deutschland gerichtete feindliche Handlung erscheinen liess. Deutschland wurde nicht eingekreist, es hat sich selbst ausgekreist und nicht zuletzt durch seine im Haag eingenommene Haltung. In bezug auf diese schrieb ich warnend in meiner noch im Jahre 1907 erschienenen Schrift: «Die zweite Haager Konferenz, ihre Arbeiten, ihre Ergebnisse und ihre Bedeutung» (S. 200/201):

«Der Politiker wird sich die Frage vorlegen müssen, welchen Zweck die Reichsregierung mit einer solchen Handlung eigentlich verfolgte; er wird sich die Frage vorlegen müssen, wie gross das der Regierung vorschwebende Ziel eigentlich sein müsse, wenn sie gestützt auf die Kleinstaaten des Balkans und Belgien und nur mit halbem Herzen gedeckt von Österreich-Ungarn und der Schweiz, bei völligem Abseitsstehen des Bundesgenossen Italien, es für gut fand, einer Welt zu trotzen, noch dazu in einer Sache, die ihren Verfechtern immer die moralische Unterstützung der öffentlichen Meinung sichert. Der Politiker wird in den offiziellen Verhandlungsprotokollen der Haager Konferenz sicherlich den Schlüssel für manche künftige Vorgänge des internationalen politischen Lebens finden, mit denen Deutschland keine Ursache haben könnte, zufrieden zu sein».