Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 5. Oktober.

Weitere Verwicklungen am Balkan. Russland stellte vorgestern ein mit 24 Stunden befristetes Ultimatum an Bulgarien, mit der Forderung, sich entweder gegen oder für den Vierverband zu entscheiden. Gestern landeten französische Truppen unter Protest der griechischen Regierung in Saloniki. Nun werden sich Österreicher und Franzosen in Serbien gegenüberstehen. Damit ist der Balkanwirrwarr noch nicht erledigt. Weitere Entscheidungen stehen bevor. Die Offensive im Westen gehört wiederum der Geschichte an. Die Riesenopfer der Alliierten sind vergeblich gewesen. Eine Feldpostkarte Egon Meiders aus seiner Gefangenenstation im Turkestan spricht hoffnungsvoll von Weihnachten. Täuschung. Habe es auch geglaubt. Nun aber nicht mehr. Und doch wird die Welt immer müder und müder. Trotz des aufmunternden Geschreis der Presse aller Länder. Wie abgehetzte Gäule ziehen die Völker an den Lastkarren des Kriegs. Es muss ein Ende kommen, und nach diesem Ende ein neuer Anfang.

Ein Vergleich für die Kriegspsyche ist mir neulich eingefallen. Die Welt sieht jetzt aus wie das Publikum der letzten Strassenbahnwagen aus den Weindörfern bei Wien, aus Nussdorf, Sievering, Grinzing. Alle Fahrgäste aus dem Gleichgewicht. Der einzig Nüchterne der Schaffner. So steht der Pazifismus inmitten dieser Welt. Vielleicht könnte auch ihn das Bewusstsein trösten, dass dieser jubelnden übermütigen Menge nach dem Katzenjammer auch wieder das Gleichgewicht der Seele und des Leibes zuteil werden wird.

Der «Alldeutsche Verband» feiert sein 25jähriges Jubiläum. Im übernächsten Jahr — im November kann es die Deutsche Friedensgesellschaft tun. Vielleicht mit weniger Ergebnis als jener Verband, aber mit umsomehr Anrecht darauf, das «deutsche Gewissen» genannt zu werden, wie man jetzt in verschiedenen Jubelartikeln den Verband bezeichnet. Aus dem Jubelartikel, den die «Alldeutschen Blätter» (25. September) zu diesem Anlass veröffentlichen, leuchtet mir ein Satz hervor, der auch für uns Pazifisten trostreiche Geltung hat. Er lautet:

«Was notwendig ist, das ist auch wahr; die Wahrheit bricht sich aber schliesslich immer Bahn, und daher muss jegliche äussere Macht, sei sie noch so gross, allendlich doch zurückweichen, sich besiegt geben vor der im Keime so unscheinbaren, in Beharrenskraft und allendlicher Wirkung aber unmessbar gewaltigen Macht des Gedankens».

Darauf bauen auch wir die Hoffnung auf den Sieg unserer Idee. Es gibt nichts Notwendigeres als eine Staatenorganisation, daher auch nichts Wahreres. Der Krieg wird dazu beitragen, den Durchbruch dieser Wahrheit zu beschleunigen.