Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

27. Oktober (Bern) 1914.

Ein schwerer Schlag!

Als wir gestern spät abends ins Hotel zurückkehrten, fanden wir eine Depesche aus München folgenden Inhalts: «Hans in Frankreich gefallen. Lucy aufgelöst. Könnt Ihr kommen?»

Hans — das ist Dr. Bernhard v. Jacobi, kgl. Hofschauspieler in München, der Neffe meiner Frau; einer der hoffnungsreichsten, liebenswürdigsten und gediegensten Menschen. Seit acht Jahren in glücklichster Ehe mit unserer Lucy. Im Februar verloren sie ihr einziges Kind. Jetzt der Mann tot. Vor vierzehn Tagen war er zur Front zurückgekehrt, nachdem er vier Wochen lang in München die Heilung einer Wunde abwartete. In dieser Zeit von der Münchener Gesellschaft verhätschelt. Er flüchtet sich, wie er selbst sagte, an die Front, um wieder Ruhe zu haben. Und nun hat er sie.

Die Nachricht traf uns wie ein Donnerschlag. Es trat damit all das bedauerte und mitempfundene Unheil als Einzelschicksal in Erscheinung. Wie furchtbar wirkt dies erst, wenn man mit einem solchen irgendwie verbunden ist, wenn die Zahl Fleisch und Blut wird. Der ganze Jammer dieser wahnsinnigen den Krieg duldenden Menschheit erfasst einen, und wie ein wildes Tier möchte man in die Welt hinausbrüllen, dass es ein fürchterlicher, entsetzlicher Wahn ist, der hier gewollt wird, dass alle jene, die sich jetzt bestreben, den Krieg als Grosses, Wunderbares, Notwendiges hinzustellen, die gefährlichsten Taschenspieler der Welt sind, gegen die die Menschheit sich mehr schützen müsste als gegen Schakale oder Cholerabazillen. Auch wir Pazifisten, die wir schon einen Überblick über diesen Wahn gewonnen haben, sehen ihn auch noch zu milde an. Erst wenn man es an solch einem Einzelschicksal erlebt, das warme Leben, das da verspritzt wird, gekannt, seine Arbeit gesehen, sein Innenglück erfasst, sein Recht auf Leben und Zukunft erschaut hat, dann weiss man wie brutal und niederträchtig der Krieg ist. An diesem einen Toten, der einem nahestand, kann man es ermessen und nicht an der nach Zehntausenden messenden Zahl der übrigen. Und doch kann man ahnen, was jetzt in der Welt vorgeht, wenn man sich dieses Einzelschicksal zum Masstab nimmt.

Welch wonniges Paradies muss die Hölle sein gegen dieses schlachtendurchwühlte Europa von heute. Täglich, stündlich ereignen sich die bittersten Elendstatsachen und zerreissen Menschenschicksale auf immer.

Wie habt Ihr uns die Welt besudelt, wie habt Ihr unser Leben zerbrochen, Ihr Urheber, Ihr Preiser, Ihr Förderer dieses Kriegs! Ihr wart stärker als wir, Euer Werk ist trefflich gelungen.