Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 2. September.

Die Enthüllungen aus dem Suchomlinowprozess beleuchten die dunkle Tätigkeit der russischen Kriegspartei während der verhängnisvollen zwölf Tage im Sommer 1914. Sie zeigen, wie man den Zar überrumpelt, wie man ihm den Befehl zur allgemeinen Mobilisierung abgelistet und wie man ihn getäuscht hat, als er den nächtlichen Befehl zur Rücknahme der Mobilisierung erteilte.

Die deutsche Presse, auch die liberale, triumphiert ob dieser Enthüllungen. Nun sei der Beweis erbracht, wer den Weltkrieg verursacht hat. Gemach, meine Herren!

Dass es in dem automatisch regierten Russland eine Kriegsclique, einen zum Krieg treibenden Militarismus gab, ist bekannt. Wir hatten Kriegstreiber in allen Ländern, die besonders gefährlichen aber dort, wo das Volk ausgeschlossen war von den letzten Entscheidungen, wo schließlich ein Einzelner Ausschlag gab über Krieg und Frieden. Dass diese Verhältnisse für Russland zutrafen, wusste man; musste man auch bei uns wissen. Deshalb war es doppelt frevelhaft, jenen blutgierigen russischen Bestien, die nur auf die Gelegenheit warteten, diese Gelegenheit zu zimmern. Die Entfesselung des Kriegs begann nicht bei der russischen Mobilisierung, sondern bei jener Aktion, die dieser den Anlass gab, bei jener Handlung, die den Kriegslüsternen dort die Gelegenheit schuf und bei jenen Handlenden, die die Gefahr nicht in Rechnung zogen, die in der russischen Kriegspartei lag. Die Entfesselung des Krieges begann mit dem

Ultimatum an Serbien, sie wurde betrieben durch die konsequente Ablehnung aller englischen Vermittlungsversuche. Nicht die russische Mobilisierung hat den Krieg gebracht. Das war nur das Dogma des preußischen Generalstabs. Man hätte auch im Zustand der Mobilisierung noch unterhandeln können. Aber der Militarismus auf beiden Seiten wollte sich den feiten Bissen des längst ersehnten Kriegs nicht entgehen lassen und drang auf rasche Entscheidung, die die Besinnung nicht aufkommen lasse. Wir sind erfreut und dem gütigen Geschick dankbar, das uns einen Einblick in die Machenschaften der Kriegstreiber und Militaristen in Rußland gebracht hat. Wir warten aber sehnsüchtig auf den Tag, der uns die geheimen Vorgänge bei uns entschleiern wird. Dann wird das Bild erst vollständig sein.

Aber wir wissen ja schon so viel! Heute sehen wir, dass der Zar gegen den Krieg war. Hätte man Zeit gewinnen können, so hätte er sich seiner militärischen Umgebung wohl erwehren können. Die von England gewünschten, von der ganzen Entente gebilligten Konferenzen, hätten, wären sie zustande gekommen, dem Zaren die Macht über seine Bedränger gegeben. Der Friede wäre gerettet worden! Aber die Diplomatie der Zentralmächte war es, die konsequent und mit höchster Eile alle Vermittlungsversuche ablehnte, sie aus Prestigegründen oder dem nichtigen Vorwand, dass sie «von den Ereignissen überholt» seien, ablehnte. Der Zar erlag der Militärpartei.

Die Schuld am Kriege ist durch die Enthüllungen des Januschkewitch und des Suchomlinow nicht abgewälzt. Man muss dem Anfang nachforschen und nicht an einem beliebigen Punkt einsetzen, mit der «sekundären Kausalität» manövrieren.

Aber noch etwas lehrt uns dieser wertvolle Prozess. Die große Gefahr, die darin liegt, wenn ein Einzelner

über das Schicksal von Millionen gebietet, wenn die Schutzvorrichtung der Demokratie fehlt. Hätten in den Tagen um den 30. Juli 1914 die Vertreter des russischen Volkes eingreifen können in das dunkle Getriebe der russischen Generale, dann wäre es weder zur Mobilisierung noch zum Krieg gekommen, und der autokratische Schwächling am russischen Thron hätte nicht die Wahl zur Entscheidung gehabt. Die Demokratie in Russland hätte das Unglück abgewandt, nicht nur das Unglück Russlands, sondern das Unglück der Welt.

Will man nun noch sagen, dass die demokratische Einrichtung eines Staates eine innere Angelegenheit sei, die andere Staaten nichts angehe?