Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

11. November 1916.

Geburtstag. Der dritte im Kriege. Die Reichskanzlerrede vom 9. d. M. betrachte ich wie ein persönliches Geschenk der Vorsehung. Sie ist für uns alle, die wir für die Vernunft im Völkerleben eintraten, ein gewaltiges Erlebnis. Fünfundzwanzig Jahre lang bekämpft, verurteilt, verlacht und nun von dem Inhaber des höchsten Amtes die Bestätigung alles dessen zu hören, was man unter diesen widrigen Umständen erstrebt hat, das ist ein Sieg! Die militärisch dressierte Psyche wird uns vielleicht am besten verstehen, wenn wir das Gefühl, das uns jetzt erfüllt, mit jenen Gefühlen vergleichen, die einen Feldherrn durchwühlen, der nach langem Kampf in die Hauptstadt des Gegners einzieht. Auch wir können sagen: Ein Bollwerk ist gefallen! Das wichtigste, das sich unserm Streben entgegensetzte: Deutschland will sich an die Spitze eines Völkerbundes stellen, der die Friedensstörer im Zaume hält! Deutschland wird jeden Versuch, eine praktische Lösung zu finden, ehrlich mitprüfen und an seiner möglichen Verwirklichung mitarbeiten! Deutschland bekennt sich durch den Mund seines Kanzlers zur zwischenstaatlichen Organisation und erklärt sich bereit «jetzt und im Frieden zu der Frage praktisch Stellung zu nehmen». Und er sagte:

«Wenn bei uns nach der Beendigung des Kriegs seine entsetzlichen Verwüstungen an Gut und Blut der Welt erst zum vollen Bewusstsein kommen werden, dann wird durch die ganze Menschheit ein Schrei nach friedlichen Abmachungen und Verständigungen gehen, die, soweit es irgend in Menschenmacht liegt, die Wiederkehr einer so ungeheuerlichen Katastrophe verhüten. Dieser Schrei wird so stark sein, dass er zu einem Ergebnis führen muss. »

So sprach der Reichskanzler am 9. November 1916.

Ich weiss, dass es müssig ist, es jetzt zu sagen, aber ich kann den aus tiefster Seele dringenden Seufzer nicht unterdrücken: Hätte er doch dies alles früher gesagt, hätte er auf uns gehört und nicht zugelassen, dass unsere Worte und Mahnungen durch das Trommelgerassel des Wehr- und Flottenvereins erstickt worden sind. Und wir werden es uns nie nehmen lassen, dies immer wieder zu sagen.

Die Reichskanzlerrede vom 9. November erinnert an die Stimmung, die uns befiel, als damals plötzlich das Zarenmanifest erschien. Damals, vier Wochen nach Bismarcks Tod, am 28. August 1898. Dies sollte eigentlich unsere heutige Stimmung dämpfen. Die Erinnerung an manches von einer Regierung gegebene Versprechen, wäre geeignet, die gleiche Wirkung auszulösen. Aber selbst bei nüchternster Betrachtung erkennt man, dass heute die Dinge doch anders liegen als 1898. Die Garantien für die heute sich ergebenden Hoffnungen liegen — leider — in dem gewaltigen Blutmeer, das uns umgibt, in dem Trümmerfeld, in dem wir stehen. Das Versprechen des Reichskanzlers, dass Deutschland an einer zwischenstaatlichen Organisation mitarbeiten werde, entspringt keiner Spekulation, keinem theoretischen Plan, es hat — immer wieder muss ich sagen: leider — ehernen Boden. Und wenn selbst ein anderer Kanzler kommen sollte, der Boden bleibt für lange, und die Notwendigkeiten, die er aufzwingt, werden ihre Wirkung geltend machen.

Wir begrüssen in der Reichskanzlerrede die weise Erkenntnis, die das Verfahren abkürzt und den Leidensweg auch.

Meine Zuversicht könnte gedämpft werden durch einzelne Reden, die im Anschluss daran, aus dem Kreis der Abgeordneten gehalten wurden. Der Reichskanzler lehnte die Annexion Belgiens klar und deutlich ab, die Redner des Zentrums, die Nationalliberalen und die Konservativen verdächtigten diese Erklärung, indem sie die Ablehnung der Annexion so verstanden wissen wollten, «dass Belgien, politisch, militärisch und wirtschaftlich in deutscher Hand bleiben müsse». Als ob das etwas anderes wäre als eine Annexion! Solche Verdrehungen wären imstande, die für den Frieden der Welt so wichtige Regierungsäusserung zu diskreditieren. Wenn der Kanzler sagt, dass die Annexion Belgiens niemals in unserer Absicht lag, darf man nicht mit einer Verdrehung kommen, die einem Talmudisten oder einem Scholastiker alle Ehre machen würde, und hinzufügen: Annektieren, Gott bewahre uns davor, nur politisch, militärisch und wirtschaftlich müsse es in unserer Hand bleiben. Wer solche Unehrlichkeit begeht, hat fürwahr kein Recht mehr über ein «perfides Albion» zu zetern. Die mit solchen Verdrehungen an die Welt gerichtete Zumutung ist nicht nur perfid, sondern auch dummdreist! Und was soll man erst zu jener Forderung sagen, dass dafür gesorgt werden müsse, dass Belgien niemals wieder als Einfallstor gegen Deutschland dienen darf ?! Seit einem Menschenalter liegt der Kriegsplan im deutschen Generalstab ausgearbeitet, dass Deutschland im Fall eines Kriegs durch Belgien marschieren müsse, und nun will man eine Garantie dafür, dass andere dies «nicht wieder» tun sollen. Wenn wir nicht wüssten, dass die Kriegspsychose die Urteilsfähigkeit beschränkt, so stünde man hier vor einer unerklärlichen Erscheinung.

Dass die Nachredner des Reichskanzlers von dem verkündeten neuen System einer Staatenorganisation keine Ahnung hatten, auch dort, wo sie ihm zustimmten, beweist ihre Besorgnis für die Verrammelung von Einfallstoren, für die strategische Verbesserung der Grenzen, für die Stärkung der eigenen Seemacht. Sie ahnen alle nicht, dass die einzige Garantie für Sicherheit des Besitzes und der Ruhe nur in jener zwischenstaatlichen Organisation liegen könne, die auf dem Grundsatz «Austausch eigener Macht gegen fremde Pflichten» beruhen wird.

Wahrlich gewisse Reden aus dem Kreise derjenigen, die man Volksvertreter nennt, sind geeignet, die Wirkung der Worte des Kanzlers zu verringern. Man muss sich jedoch die Frage vorlegen, ob jene Männer wirklich noch die Vertreter des Volks sind. Und ich verneine rundweg diese Frage. Die Männer, die in der Welt und unter den Ideen von 1912 gewählt wurden, vertreten keineswegs mehr die Anschauungen des Volks, das die Krise von 1914 bis heute durchlebt hat. Man leiste sich doch die Probe und rufe das deutsche Volk unter der vom Reichskanzler ausgegebenen Parole jetzt zur Urne; man gebe die Presse zu diesem Zweck frei, und man wird sehen, wie die Männer und ihre Ideen, die sich heute gewichtig breit machen, wie Flaumfedern von einem Sturm hinweggeblasen werden. Das deutsche Volk in seiner Mehrheit, und wenn es aufgeklärt werden dürfte, in seiner Gesamtheit, steht heute hinter dem Kanzler und nicht hinter den Spahns, den Bassermanns und Westarps.

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Der Reichskanzler hat in seiner Rede auch noch von andern Dingen gesprochen, als von der Zukunft. Er sprach viel und eingehend von der Vergangenheit, von jenen unseligen Tagen, die dem Kriegsanfang unmittelbar vorangingen. Er sprach von der Ursache des Kriegs und der Schuld daran. Den von Grey am 24. Oktober getanen Äusserungen gegenüber suchte er die Unschuld Deutschlands zu beweisen und Englands Schuld klar zu legen. Ein altes Spiel, dem wir seit Monaten beiwohnen, und das wahrlich nicht imstande ist, auch nur ein Menschenleben in Europa zu retten.

Wenn es in dieser unerquicklichen und unzeit-gemässen Diskussion etwas Erfreuliches geben kann, so ist es der Umstand, dass die beiden führenden Staatsmänner der gegnerischen Koalitionen in einem einig sind, nämlich den Krieg als etwas Verwerfliches anzusehen.

Dieser Kampf um die Schuld ist wichtig, im höchsten Grad wichtig; weil die Ausgestaltung des künftigen Friedens von den zutage geförderten Ergebnissen abhängen wird. Nur wenn man klar sehen wird, wie dieser Krieg «gemacht», die Küchen entdecken wird, wo er gebraut wurde, und die Köche, die ihn bereiteten, wird man die Einfallstore des Kriegs, um sich annexionistisch auszudrücken, verrammeln können.

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Der Kanzler suchte neuerdings den Beweis zu erbringen, dass die russische Mobilisierung die unmittelbare Ursache des Kriegs war. Zur Bekräftigung brachte er ein Dokument vor, das bereits 1912 durch Befehl die russischen Kommandos der Westfront dahin verständigte, dass die Verkündigung der Mobilisierung zugleich die Verkündigung des Kriegs gegen Deutschland sei. Dieser Befehl war bis 1914 nicht zurückgenommen worden.

Militärisch gedacht ist die russische Mobilisierung für Deutschland der Anlass gewesen, den Krieg sofort zu beginnen. Politisch gedacht fängt die Kriegsursache nicht mit der russischen Mobilisierung an. Der vom Kanzler jetzt zum erstenmal bekannt gegebene Rat an Österreich-Ungarn vom 29. und 30 Juli kam zu spät. Er hätte vor dem Erlass des Ultimatums, d. h. vor dem 23. Juli einsetzen müssen. Man hätte alles vermeiden müssen, was Russland als Anlass zu einer Mobilisierung hätte dienen können, zumal man den Befehl von 1912 gekannt hat.

Neu ist in den Ausführungen des Kanzlers, dass dieser den Grey’schen Vorschlag, Österreich möge Belgrad besetzen und dann verhandeln, nach Wien übermittelt und dort ernstlich befürwortet hat. In der zitierten Depesche vom 29. Juli erwähnte der Kanzler, dass «das politische Prestige Österreich-Ungarns, die Waffenehre seiner Armee sowie seine berechtigten Ansprüche gegen Serbien» durch die Besetzung Belgrads oder anderer Plätze gewahrt werden könnte. Es berührt heute nach 2 1/4 Jahren des furchtbarsten Kriegs eigentümlich, zu erfahren, dass in jenen kritischen Tagen, die das Los von Millionen Zeitgenossen und kommender Generationen entschieden, solche Dinge wie «Prestige» und «Waffenehre» eine Rolle gespielt haben sollen.

Graf Berchtold hat nach den vom Reichskanzler gemachten Mitteilungen den Vorschlag nicht angenommen, denn er hat den Fortgang der militärischen Aktion gegen Serbien und den Stillstand der gegen Österreich gerichteten russischen Mobilisierung verlangt.

Wenn etwas imstande ist, die Notwendigkeit der Errichtung einer festen Friedensorganisation zu veranschaulichen, so ist es der hier ermöglichte Einblick in den diplomatischen Gedankenaustausch. Nur die völlige Ahnungslosigkeit von dem. was am Spiel stand, könnte die Haltung und die Anschauungen der Diplomatie von damals entschuldigen. Entschuldigen? — Nein, sicherlich nicht, höchstens erklären.