Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 10. Mai.

In Deutschland Wacht-am-Rhein-Stimmung. Es braust ein Ruf wie Donnerhall . . . Und es ist recht so. Einstimmig von den Konservativen bis zu den Unabhängigen Ablehnung. Einstimmig die Parole: Komme, was wolle, diesen Frieden nicht! Die Börsen sind geschlossen, für eine Woche, die Lustbarkeiten im Reich verboten. Landestrauer. Überraschend ist nur, dass man nicht alles vorhergesehen. Die Bulletins über die Beratungen der Konferenz konnten doch keine Täuschung darüber aufkommen lassen, was der Friede enthalten wird. Ich fürchtete immer, dass es so kommen werde, wenn ich auch bis zum letzten Augenblick hoffte, dass Wilson noch Rettung bringen wird. Ich hoffe noch; wenn ich auch ehrlich nicht mehr an eine Erfüllung dieser Hoffnung glaube. Aber ich kann es nicht fassen, dass Wilson sich derartig in Widerspruch sehen kann mit seinen in der ganzen Welt vernommenen Worten, dass sich jemand, der die Anwartschaft hatte, der Heiland der Welt zu werden, sich selbst vom Piedestal herabstürzt, auf das ihn die Weltmeinung gestellt. Das wäre das furchtbarste moralische Debakel in der Geschichte.

Und wie sollen wir Pazifisten den Bankrott Wilsons ertragen? Seien wir ehrlich: wir haben alles auf diese Karte gesetzt. Wir durften es tun; denn Wilsons Verkündigung war unsere Lehre, unser Ideal, der Inhalt unserer jahrzehntelangen Kämpfe, der Inhalt des Lebens von uns allen, die wir die Herbeiführung einer neuen Weltordnung uns zur Lebensaufgabe gemacht haben. Es ist nicht bloß der Friedenschluss, der auf dem Spiel steht, es ist der Kredit einer Idee, von deren Erfüllung das Heil der Menschheit abhängt. — Wenn Wilson mit diesem Friedensvertrag nach Amerika zurückkehrt, dann ist die Hoffnung auf den Sieg der Vernunft für lange Zeit dahin. Dann regieren wieder die Krupps und Schneiders und Armstrongs, die Bernhardis und Tirpitzens, und der Geist Treitschkes wird sich von Deutschland aus über die übrige Welt ausbreiten. Es ist Schicksalsstunde!

Was nun werden wird? Die Deutschen werden sich auf ihren Vertrag mit der Entente berufen und seine Erfüllung fordern. Die vierzehn Punkte! Ein Friede auf dieser Grundlage wurde ihnen zugesichert. Soll sich das Schicksal Napoleons I. wiederholen, der die Gastfreundschaft Englands angerufen, im Vertrauen darauf den «Bellerophon» bestiegen und dann, unter Bruch des Versprechens nach St. Helena in die Gefangenschaft abgeführt wurde? Fast scheint es, dass sich die Geschichte hier wiederholen soll.

Aber ein Volk kann nicht in die Gefangenschaft geführt, ein Volk von siebzig Millionen kann nicht geknechtet werden. Seine Bewachung, seine Niederhaltung bedeutet Krieg, nicht neuen Krieg, Fortsetzung des alten, in anderer Form, aber mit derselben Wirkung. Krieg in Permanenz mit Mord und Lebensverhinderung, mit Gütervernichtung, mit dauernder Unsicherheit, mit Verausgabung aller Kräfte für Gewaltübung statt für produktive Arbeit.

Das können die Vergewaltiger ebensowenig vertragen, wie die Vergewaltigten. Soll die Wahrheit in Versailles nicht dämmern, soll sich Wilson, der klarsehende Wilson, der die Forderung der Zeit verstanden, ihr verschließen?