Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. November.

Mein 50. Geburtstag. — Als Folie der Massenmord, der bis zum Wahnsinn gesteigerte Hass, die Ruinen zerstörter Städte, erschütterte Existenzen zu Millionen und Trauer in den Herzen der Familien. Mehr als die Hälfte der Menschheit steht im Krieg. Das könnte mich eigentlich mit Zweifel erfüllen und mein bisheriges Leben, von dem ich fast die Hälfte dem Kampf für die Vorbeugung dieses Elends gewidmet habe, als verfehlt ansehen lassen. Aber das Bewusstein, einer der Wenigen gewesen zu sein, die treu die Pflicht der Menschheit gegenüber erfüllt haben, gewährt mir volle Befriedigung.

Der Tag wird kommen — und er muss bald kommen — wo diese arme, irregeführte Menschheit erkennen wird, wo ihre Freunde stehen.

Und wenn sie selbst es auch nicht erkennt, wir haben es erkannt, was ihr not tut. Und so soll denn die Zeit, die mir noch im Licht zu wandeln vergönnt ist, im Dienste dieser Erkenntnis gelebt werden!

Vorgestern von meinem Freunde G. M. aus Paris Brief erhalten. Beigelegen hat seine Photographie in der Uniform eines Hauptmanns des Generalstabs mit der handschriftlichen Widmung «Pour les droits des peuples et le respect des chiffons de papiers! A Alfred H. Fried son ami G. M., Août 1914.» Ausserdem die Photograpie seines Sohnes Jules als Sous-Lieutnant des Genie-Corps hoch zu Ross. Meine Feinde! Der Brief ist sehr zuversichtlich, enthält vielfache Kritik meines Kriegstagebuches, träumt von dem Sieg der Demokratie in Europa als Ergebnis dieses Kriegs.

Lafontaine, der noch immer seine Objektivität nicht gefunden hat, schrieb mir aus London, dass er von mir einen öffentlichen Protest gegen die Verletzung der Neutralität Belgiens erwartet hätte. Wenn ich diesen Protest unterlassen habe aus Angst für mein Leben oder meine Freiheit, so täte ich ihm in der Seele weh!

Die Antwort, die ich ihm darauf schreiben wollte, finde ich am besten formuliert in dem Briefe, den mir Frl. Schwalb, meine tapfere Mitarbeiterin, aus Wien zu meinem Geburtstag schrieb. Da sagt sie: «Einst starb man für die Kirche, heute stirbt man mit demselben Opfertaumel für den Staat. Morgen aber wird man für die Menschheit leben wollen, weil Leben grösser ist als Tod, und Liebe stärker als Hass.» — Das ist eine richtige Anschauung. Die sentimentale Romantik der Selbstaufopferung, ist wenig angebracht für die Kämpfer um das Wohl der Menschheit. Kirche und Armee mögen sich daran berauschen, wir Soldaten der Menschheit, wir wissen, dass es oftmals schwerer ist, für das Vaterland zu leben als für es zu sterben; wissen aber auch, dass das Erstere in jedem Falle notwendiger ist.