Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. September.

Dernburg schreibt im «Berliner Tageblatt» (23. IX.) über die deutsche Antwortnote folgendes:

«Unsre Stellung gegenüber diesen, die Welt seit Jahrzehnten aufregenden Fragen, war bisher wenig glücklich. Der Glaube, daß eine Macht, genügend, um das Recht gegen die ganze Welt zu verteidigen, wenn nicht das einzige, so doch das wichtigste Mittel nationaler Existenz sei, lag uns zu tief im Blut. Und unsre Regierung hat nicht nur nichts getan, um das Volk richtig zu beeinflussen, sondern eher das Gegenteil. Mächtige und einflussreiche Männer, die aber ohne Fühlung waren mit dem allgemeinen Weltbewußtsein, haben dafür gesorgt, dass der Gedanke nicht zur Annerkenung kam... So ist denn der Gedanke der Schiedsgerichtsbarkeit in Deutschland ebenso diskreditiert geblieben wie der der Abrüstung, sehr zum Schaden unsres Ansehens und des Glaubens der andern an unsre Friedfertigkeit und Rechtlichkeit. Die breite Masse unsres Volkes ist erstaunlich ununterrichtet über den vielen Nutzen, den auch für uns Deutsche die bisherige freiwillige Schiedsgerichtsbarkeit in der Lösung internationaler Schwierigkeiten geschaffen hat. Und dagegen haben auch alle Bestrebungen der sogenannten pazifistischen Kreise, die Friedensgesellschaft, die interparlamentarische Union, die verschiedenen Kongresse nicht ankommen können. Umsomehr ist ihr tapferes Ausharren zu loben ...»

Gewiß haben die Pazifisten nicht gegen den Widerstand aufkommen können. Die ganze Macht des Staates stand ihnen gegenüber. Die militärische Auffassung der Friedenssicherung fand ihre Vertreter bis in die höchsten Stellen hinauf und wurde von der Wissenschaft und der Politik, vor allem aber von der Presse unterstützt. Es gelang unsern Gegnern, uns mit dem Fluch der Lächerlichkeit zu belegen und damit die Mehrzahl der Denkfähigen, die uns innerlich zustimmten, von uns abzuhalten. Es waren nur wenige Mutige, die es wagten, sich offen zur pazifistischen Idee zu bekennen. Hierzu kam, dass unsre Gegner über ungeheure Geldmittel verfügten, dass sie Männer in den höchsten staatlichen Würden zu den ihren zählen konnten, während die Mittel der Pazifisten erbärmlich gering waren, so dass alle ihre Organisationen und Aktionen einen kleinbürgerlichen Anstrich erhielten. Es war viel vornehmer und bequemer, wohl auch lukrativer, mit den Gegnern des Pazifismus zu gehen.

Die Bekehrung zu einem pazifistischen Programm seitens der Reichsregierung könnte uns, die wir alle diese Unbill über uns ergehen ließen, mit Genugtuung erfüllen. Aber seien wir doch eingedenk, dass es sich vorläufig um die ersten Gehversuche des offiziellen Pazifismus handelt. Es ist eine unvermittelte, vorläufig nur äußerliche Zustimmung, erzeugt durch die Not der Stunde. Man braucht nur die deutschen Pressestimmen zu lesen. Sie sind der Note gegenüber viel abfälliger als die ausländischen Stimmen. Der deutsche Regierungspazifismus ist ein Versuch der Anpassung an eine neue Mode, die 8 aber der alten miliiärisch-imperialistisch-absolutistischen Vettel wahrlich nicht gut zu Gesicht steht. Eine Idee muh in einem harmonischen Verhältnis zu ihren Trägern stehen, und das ist bei den alten Menschen, die die Träger ganz anderer Ideen waren, nicht zutreffend. Der Kriegsminister von Stein ist noch im Amt, der sich über die Friedensidee im Reichstag lustig gemacht hat, und wenn auch Bethmann Hollweg seinen Posten geräumt hat, den Brief, den er vor einigen Monaten erst an General Gebsattel geschrieben, worin er den Alldeutschen ihre Bekämpfung des Pazifismus, der von ihm sogenannten «Verbrüderungsideologie» als großes Verdienst angerechnet hat, ist noch unwiderrufen und vollgiltig.

Wir Pazifisten dürfen uns durch den Triumph, den wir errungen, dass wir den widerspenstigen Gegner wenigstens äußerlich zum Nachgeben zwangen, nicht betören lassen. Es könnte dies die Vorbedingung einer schweren Niederlage werden. Wir müssen auf der Hut sein vor Gefahren, die der Friedensidee gerade jetzt als Folge der Gunst drohen, die ihr von der Regierung zuteil wurde. Eine Woge gewissenlosen Strebertums wird sich jetzt über die Öffentlichkeit ergießen, die versuchen wird, sich durch Vertretung der Idee, in einer Form wie sie oben genehm sein könnte, verdient zu machen. Alle jene, die früher die Bewegung mieden, bloß weil sie nichts einbrachte, und keine Gelegenheit gab, sich nach oben zu empfehlen und auszuzeichnen, die werden jetzt auf einmal hineinströmen und sich salbungsvoll und mit der ganzen Geschäftigkeit von Volksküchen- und Rote Kreuz-Wohltätigkeit für das von der Regierung nunmehr gern gesehene Friedenswerk einsetzen, und dieses mit ihrer Ahnungslosigkeit und Gleichgiltigkeit verwässern und in ihrem Sinn «praktisch» zu gestalten suchen.

Seien wir uns ganz der Gefahr bewußt, die dieser Konjunktural-Pazifismus der großen Menschheitsbewegung des Pazifismus zu bringen vermag. Vergessen wir nicht, dass die Interessenten an dem alten System noch sehr lebendig sind, und dass es ihr Interesse erheischt, mit ihren reichen Mitteln gerade solche auftauchenden Strömungen eines blos aus geschäftstüchtigen oder «gutgesinnten» Motiven sich gebenden Pazifismus grob zu ziehen und in den Vordergrund zu stellen, um die Reaktion vorzubereiten und dem Sieg der Idee ein Bein zu stellen. Schon rühren sich diese Verbesserer, diese Reformer, diese Tüchtig-Wichtigen, die der Masse, die früher über die Pazifisten und ihr Werk lachten, den Rückzug erleichtern wollen, indem sie das Lachen als berechtigt nachzuweisen suchen, da die Lehren und die Betätigung des bisherigen Pazifismus es gar nicht anders verdienten. Sie suchen mit einer technischen Ideenfülle und Rüstigkeit, mit der man allenfalls eine Badeanstalt oder einen Wasserzirkus etabliert, einen «neudeutschen», der «deutschen Eigenart» entsprechenden Pazifismus zu konstruieren, wie die Gegner der Demokratie ihre Erfindung ausposaunten, dass die «deutsche Eigenart» die demokratischen Einrichtungen der Westmächte nicht vertragen könne und eine eigene deutsche Demokratie errichten müsse, die etwa ebenso ein Widersinn war, wie eine deutsche Tuberkulosenlehre oder deutsche Geburtshilfe. Achtung! Solche «Unternehmer» sind schon am Werk, und die Gefahr besteht, dass sie von einflußreichen Kreisen und Stellen zur Sabotierung des unangenehm sich aufdrängenden Pazifismus ausgenützt werden können! Achtung! Lassen wir uns, lassen wir aber auch das deutsche Volk nicht blenden, wenn diese verkappten Saboteure demnächst, mit reichen Mitteln ausgestattet, ihr trauriges Handwerk auszuüben beginnen werden. Die Anzeichen, dass sie es tun werden, sind schon da.

Für die ehrlichen Anhänger des Pazifismus sind Richtung und Programm ganz deutlich vorgeschrieben. Wir freuen uns des eingetretenen Wandels in der Politik der deutschen Reichsregierung, ihres Bekenntnisses zu unsern Ideen. Wir wollen die Tiefe der Idee nicht untersuchen. Wir nehmen die Führer der Regierung beim Wort. Wir werden versuchen, sie immer für den groBen Gedanken zu gewinnen, ihnen Vertrauen in seiner Stärke einzuflößen, ihnen zu helfen und zu raten. Aber wir müssen uns dabei klar bleiben. Pazifismus ohne Demokratie ist ein Unding. Beide Ideengänge sind eng miteinander verschwistert. Noch mehr: Sie sind ein und dasselbe, nur von den verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet. Der Pazifismus ist die Demokratisierung der äußeren Politik. Wie die Demokratie im Innern die Regierung zu einer Exekutive des Volkswillens, zu einer Herrschaft des Volks durch das Volk gestaltet, so vollzieht der Pazifismus den Volkswillen in Verkehr und in der Lebensanpassung mit den andern Völkern. Es kann nur einen demokratischen Pazifismus, nur eine pazifistische Demokratie geben, anderes gibt es nicht. Und daran wollen wir festhalten, wir alle, die wir zur Beseitigung des Kriegs zwischen Kulturvölkern gelangen wollen.