Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. Juni.

Das Karlsruher Unglück vom 22. Juni erregt überall Entsetzen. Die französischen Flieger erschienen am Fronleichnamstag zwischen 3 und 4 Uhr. Ein Bericht aus Basel schildert den Vorgang:

«Es war in der badischen Residenz Feiertag, und da befand sich überall ein zahlreiches Publikum auf der Strasse; viele Leute befanden sich auf dem Weg zur Kirche, andere suchten sich in irgend einer Weise zu unterhalten, und für den Nachmittag hatte die Tierschau Hagenbeck, die zurzeit in Karlsruhe gastiert, eine Kindervorstellung zu ermäßigten Preisen angekündigt. Vor dem Zirkus standen zahlreiche Frauen und Kinder einlassbegehrend, als plötzlich in der Menge eine Fliegerbombe platzte und ein furchtbares Blutbad unter den Frauen und Kindern anrichtete. Da lagen sie zu hunderten verletzt und tot, und weit im Umkreis sah man ebenfalls noch Verletzte. Wie viele Frauen und Kinder von den französischen Bomben getötet wurden, weiss man in der Gesamtzahl noch nicht».

Zu Hunderten verletzt oder tot! — Der offizielle deutsche Gneralstabsbericht vom 23. Juni sagt: «Gestern wurden Karlsruhe und Mühlheim sowie Trier durch feindliche Flieger angegriffen. Wir haben eine Reihe von Opfern aus der bürgerlichen Bevölkerung zu beklagen; nennenswerter militärischer Schaden konnte in jenen Orten nicht angerichtet werden».

Das ist eben der Luftkampf, dem es nur selten gelingt, militärischen Schaden anzurichten, dessen entsetzliche Folgen fast immer die Bevölkerung zu tragen hat. Je nachdem man Werfer oder Beworfener ist, triumphieren oder klagen die Berichte.

Der Fliegerangriff auf Karlsruhe war nach französischen Berichten die Vergeltung für Bar-le-Duc.

Die Nachricht über diesen Fliegerüberfall auf eine französische Stadt wurde in deutschen Zeitungen in folgender Weise verbreitet.

«Ein Bericht der «Neuen Zürcher Zeitung» meldet nach dem «Bulletin Meusien» über den Besuch deutscher Flieger in Bar-Le-Duc, dass dieser Hauptort des Departements schwer heimgesucht worden sei. Bereits am Himmelfahrtstag seien Bomben mitten in die grosse Volksmenge gefallen, die sich mittags bei der Ankunft des Pariser Zuges immer zu versammeln pflegt. 50 Personen seien getötet und 80 verwundet worden. Auch in der Nähe der Präfektur seien Bomben heruntergefallen. Ebenso hätte eine Bombe das Zivilgerichtsgebäude durchgeschlagen. Am Tag darauf wären auch in Ligny-en-Barrois zwei Personen getötet worden. Die Aufregung in der Stadt wäre furchtbar und hätte mehrere Tage gedauert».

Also Aug’ um Auge, Zahn um Zahn.

Gerade zurecht kommt mir eine Schrift des Rektors der Berliner Handels-Hochschule Professor Dr. Paul Eltzbacher, zur Hand, der über «Totes und lebendes Völkerrecht» schreibt.

Seinem «lebenden» Völkerrecht erscheint die Bekämpfung der bürgerlichen Bevölkerung heute zulässig. Nach ihm «ist auch das Abwerfen von Bomben aus Luftschiffen und Flugzeugen ohne Einschränkung gestattet». Eine Unterscheidung zwischen befestigten und unbefestigten Orten lässt er nicht zu. «Denn die Abwertung der Bomben erfolgt ja in den allermeisten Fällen gar nicht, um einen Ort erobern zu helfen, sondern, um das feindliche Wirtschaftsleben zu stören, vor allem aber um bei der feindlichen Bevölkerung Mutlosigkeit und Kriegsunlust zu erzeugen. Diese Wirkungen werden aber auch durch die Bomben erzielt, die auf wehrlose Orte fallen. Die Bombenwürfe auf London finden nicht nur in den dort geschaffenen Abwehreinrichtungen ihre Rechtfertigung (?!), sondern mindestens ebenso sehr darin, dass London das Herz des britischen Reiches ist, und dass es im hohen Mass dem Kriegsziel dient, wenn seine Bewohner die Schrecken des Krieges erleben».

Der alte Irrtum der Militaristen! Sie sehen in ihrer Verblendung nicht, dass ihre probaten Mittel zweischneidig sind, dass auch der Gegner von den gleichen Mitteln Gebrauch macht. Will Herr Prof. Dr. Paul Eltzbacher seine Theorie über die Zulässigkeit des Bombenwerfens auf friedliche Bürger in offenen Städten auch für Karlsruhe gelten lassen oder nur für Bar-Le-Duc? — Sein «lebendes» Völkerrecht erscheint mir als nichts anderes, denn als eine Galvanisierung des toten «Völkerrecht» des Dschingis-Khan und Timur-Tamerlan.