Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Arnstein, 1. August.

Die Zeitungen veröffentlichen eine als amtlich bezeichnete Mitteilung des Wolffbureaus, die als eine Art Bilanz gelten soll. Alles glänzend! Wir haben 431,000 Quadratkilometer, der Feind nur 22, 000.

Wir haben 2,658,283 Kriegsgefangene.

Es wird uns auch erzählt, wieviel Kanonen, Gewehre und sonstiges Kriegsmaterial wir erbeutet haben.

Welch sonderbare Bilanz, bei der nur die Kreditseite aufgestellt wird und mit keinem Wörtlein des Debets gedacht wird. Lediglich zu einer Vergleichung mit dem Kreditposten der seitens der Gegner besetzten Quadratkilometer hat man sich herbeigelassen. Bei den Gefangenen hat man diese Vergleichung auch nicht mehr für nötig erachtet, was nicht dazu dient, den Glanz der aufgestellten Summen zu erhöhen.

Warum hat man es unterlassen, die andere Seite darzustellen? Der Anlass erschien doch wichtig genug. Zwei Jahre Krieg ist doch ein Ereignis. Wie gross sind unsere Kosten? Wieviel Milliarden wurden für die Führung des Kriegs bereits verausgabt, wieviel ist in diesen zwei Jahren an dem Stillstand von Handel und Wandel verloren gegangen, wieviel wurde vernichtet? Wieviel zukunftsreiche Menschenleben wurden geopfert, wieviele verstümmelt und geblendet, wieviele sind krank gemacht und verseucht worden? Welche moralischen Werte sind verloren gegangen? Vielleicht berechnet einer einmal die Gesamtkosten und sucht festzustellen, welche Summe auf den besetzten Quadratkilometer fällt. Ich glaube, es kommt — wenn man nur das durch Geld zu repräsentierende in Betracht zieht —

auf jeden Quadratmeter eine Viertelmillion. Eine etwas teure Art der Gebietserwerbung.

Wenn man schon eine Bilanz macht, sollte man doch diese ernste andere Seite mit in Berechnung ziehen, statt bloss mit dem Schein der Zahlen auf der Kreditseite glänzen zu wollen. Ist man sich denn bewusst, wie sehr man mit solchen Darlegungen das deutsche Volk beleidigt, es in den Augen der andern Völker herabsetzt, wenn man es wagt, ihm mit solchen Jongleurkunststückchen zu kommen. Welch harmlose Beschränktheit muten diejenigen, die solches tun, dem Volk der Dichter und Denker zu, dem Volk, das den Kritizismus geschaffen und in die Wissenschaft eingeführt hat.

Man braucht überhaupt keine Bilanz zu machen. Zwei Jahre Krieg sind bereits der offenkundige Bankrott. Hierüber bedarf es keiner Berechnung und keines Beschönigungsversuches. Die Tatsache genügt. Völker, die auf solcher Kulturhöhe standen, zwei Jahre lang von ihrer Arbeit abgehalten, in ihrer Lebensentfaltung unterbrochen wurden, sind vernichtet. Ihr Schutzpanzer, der ihnen das Leben sichern sollte, hat sie ausgesogen. Bald wird dieser Panzer allein herumwandeln, zum Selbstzweck geworden!

* * *

Der Triester Professor Fonda, der von den Österreichern am Isonzo gefangen genommen wurde, wurde in Görz aufgehängt. Die Deutschen haben den englischen Kapitän Fryatt, der als Gefangener in ihre Hände fiel, zum Tod verurteilt und sofort erschossen. Fryatt hatte sich gegen ein deutsches Unterseeboot gewehrt und war dafür vom englischen Kriegsamt ausgezeichnet worden. Später geriet er in die Hände der Deutschen. Das Kriegsgerichtsurteil bezeichnete ihn als einen «Franktireur zur See». Die Aufregung über diesen Fall in England, bei dessen Verbündeten und in neutralen Ländern scheint noch grösser zu sein als bei der Hinrichtung der Cavell. Es kam zu Interpellationen im Parlament und zu äusserst heftigen Angriffen in der Presse. Man scheint, der Forderung nach Vergeltungsmassregeln in England nachgeben zu wollen. Jedenfalls sind unangenehme Dinge in Vorbereitung. Wer weiss, was diese wieder auslösen werden. Auch in Rotterdam fand eine Kundgebung zu Ehren des hingerichteten Kapitän Fryatts statt, worauf die Menge unter den Rufen «Nieder mit Deutschland» beim deutschen Konsulat die Fenster einwarf.

Es scheint, als ob der Militarismus der Zentralmächte es darauf abgesehen hat, die Brücken nieder zureissen, die jemals dazu dienen könnten, wieder Volk zu Volk zu führen. Es scheint, als ob er die Welt jetzt, während er sie als eine unabwendbare Notwendigkeit beherrscht, so einrichten wollte, wie sie die Utopisten des ewigen Kriegs sich vorstellen: von unüberwindbarem Hass erfüllt. Die fürchterlichsten Hekatomben der Schlachtfelder vermögen die Völker nicht so zu verbittern und zu entzweien, wie jene, unter der Maske von Rechtsnormen vorgenommenen Tötungen Einzelner, die dem gegnerischen Volk aus irgendeinem Gefühlsgrund ganz besonders lieb geworden sind.

Es wäre das Werk echter Patrioten, gegen solche verbitternde und fanatisierende Handlungen ernsthaft zu warnen. Man muss auch im Krieg an die Zeit nachher denken, wo wir mit jenen Völkern auf dem kleinen Erdball zusammen zu leben und zu arbeiten gezwungen sein werden, während sie durch derartige kurzsichtige Handlungen auf Generationen hinaus gegen uns erbittert sein werden. Wir haben nicht das Recht, unsern Enkeln, die noch gar nicht geboren sind, die Erde in so verunstalteter Weise zu hinterlassen. Die militärische Rechtspflege hat mit der Verteidigung des Landes, hat mit dem Kriege nichts zu tun. Die Menschheit hat die Pflicht, hier hemmend einzugreifen.