Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. Dezember.

Zum - drittenmal im Krieg Weihnachten. Der Mord hat kein Ende noch gefunden, aber die Hoffnung leuchtet auf. Wilson hat am 22. Dezember den kriegführenden Regierungen eine Note überreichen lassen, die zwar keine Vermittlung bedeuten aber doch eine ist. Eine jener bisher nicht gekannten Formen der neuen Friedenstechnik.

«Der Präsident regt an,» so heisst es in in diesem denkwürdigen Schriftstück, «es möge eine baldige Gelegenheit gesucht werden, um von allen gegenwärtig im Krieg stehenden Mächten eine öffentliche Erklärung ihrer Ansichten über die Bedingungen, unter denen der Krieg beendigt werden könnte, einzufordern. » Und weiter: «Der Präsident fühlt sich deshalb berechtigt, die Bildung einer gemischten Kommission anzuregen, um zu einer Vergleichung der Ziele zu gelangen, betreffend die Bedingungen, unter welchen ein Arrangement für den Weltfrieden Zustandekommen könnte.»

Eine gemischte Kommission also! Amerikanische Friedenstechnik, die sich in pan-amerikanischen Angelegenheiten so oft bewährt hat. Meine Hoffnungen auf Wilson haben mich nicht getäuscht. Die Unterlassung einer Erörterung der auswärtigen Politik in seiner Botschaft vom 4. Dezember hatte den Grund, den ich vermutete. (Sieh meine Eintragungen vom 7. Dezember.) Man kann es daher dem Präsidenten der Vereinigten Staaten glauben, dass seine Anregung mit dem Friedensanerbieten der Zentralmächte nichts gemein hat, dass sie eigener Initiative entsprang. Die Form seiner Botschaft vom 4. Dezember und die bereits Mitte November erfolgte Ankündigung seines Schritts beweisen dies.

Aber die Ereignisse überstürzen sich. Noch am selben Tag, an dem die Note Wilsons bekannt wurde, hat der Schweizer Bundesrat an die Regierungen der kriegführenden Staaten eine Note gerichtet, worin er mitteilt, dass er «freudig die Gelegenheit ergreift, die Bestrebungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu unterstützen».

So steht denn dieses Weihnachtsfest, diese Jahreswende unter dem Bann einer Hoffnung. Nicht nur der Hoffnung auf Überwindung dieses Kriegs, auch bezüglich der Zuversicht auf ein neues Europa, auf den Beginn einer neuen weltgeschichtlichen Periode. Dieser Krieg kann ohne pazifistischen Frieden, ohne eine Überwindung des alten Systems der internationalen Politik durch den pazifistischen Organisationsgedanken gar nicht beendigt werden. Es wird kein glatter Prozess werden, der sich hier entwickeln wird. Der Widerstreit der alten Kräfte wird noch manche Schwierigkeit, manche Stunde der Verzweiflung bereiten. Nein, glatt wird dieses Kriegsende, wird dieser Frieden nicht kommen, aber vollziehen wird sich beides mit unwiderstehlicher Gewalt. Wer in die Zukunft sehen will, muss gewappnet sein mit psychologischen Fähigkeiten. Diese gewähren ihm einen Überblick über den welligen Weg, den die Menschheit jetzt wandeln wird. Der Krieg erstirbt und keiner Macht der Erde wird es gelingen, ihn am Leben zu erhalten. Jetzt sind jene ungeheuren Kräfte ausgelöst worden, die unter der Oberfläche, die hinter der offiziellen Grimasse der kriegerischen Entschlossenheit verborgen ruhten. Die Friedenssehnsucht, der Friedenswille von Hunderten von Millionen, der unter dem Bann der militärischen Notwendigkeiten zur Ohnmacht verdammt war, wird brennende und lodernde Macht. Man wird den Flammenschein mit den Patschhänden der dienstbereiten Mittler, der, fälschlich so genannten, öffentlichen Meinung abzublenden suchen, man wird die Grimasse des Kriegs aufrecht zu erhalten streben, aber es wird nichts mehr nützen. Die Form zersprang, nun wird sie unter der elementaren Kraft des nun erweckten Elements ganz zerplatzen. Das Manöver, die zerplatzte Form zu retten, kann einige Zeit währen, nicht lange. Oder glaubt jemand, dass die von dem Gedanken der Friedensmöglichkeit nun einmal faszinierte Menschheit noch lange von dem blutigen Zurückweisen feindlicher Angriffe, von versenkten Schiffen, von abgeschossenen Fliegern, durch Fliegerbomben getöteten Kindern wird lesen können? Alle diese Scheußlichkeiten, an die sie sich im Verlauf des Kriegs bereits gewöhnt hat, erscheinen ihr jetzt unter dem Eindruck der Friedensmöglichkeit, als das, was sie sind, als Scheußlichkeiten und Verbrechen wie einst. Das verträgt die jetzt widerstandsloser gewordene Seele der geschundenen Europäermenschheit keine langen Wochen mehr. Die Flamme des Friedenswunsches brennt und sengt und kennt keinen Widerstand. Der Friede kommt, der wirkliche Friede, den Europa noch nie gekannt hat.