Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. Dezember.

Die Rede, die der neue russische Ministerpräsident Trepow am 2. Dezember gehalten hat, könnte Wasser auf die Mühlen der deutschen Annexionisten giessen. Trepow hat den russischen Jusqu’auboutismus verkündet:

«Russland wird die Waffen nicht niederlegen bis der volle Sieg errungen ist. Die ganze Welt möge es noch einmal hören . . . Das grosse Russland und seine Verbündeten werden den letzten Mann mobilisieren und alles Gut des Staates opfern. Aber der Krieg wird fortgesetzt bis zum Ende, bis das deutsche Joch und die deutsche Gewalttätigkeit gebrochen sind für immer . . . Wir müssen den Krieg fortsetzen bis zur Unmöglichkeit einer Wiederherstellung Deutschlands in kurzer Zeit»

Polen müsse wiederhergestellt werden, aber mit den in preußischem Besitz befindlichen Provinzen, die Dardanellen und Konstantinopel müssen russisch werden. Hierbei berief sich Trepow auf ein mit Grossbritannien, Frankreich und Italien abgeschlossenes Abkommen von 1915, in dem endgültig das Recht Russlands auf die Meerengen und die Khalifenstadt festgestellt worden sei.

Wenn man die Rede liest, dann könnte man meinen, der Krieg hätte gestern begonnen. Dass er bereits 28 Monate währt und noch nichts erfüllt hat von dem, was der kriegerische Ministerpräsident als Friedensbedingung bezeichnet, möchte man gar nicht glauben. Die deutschen Annexionisten werden sich freuen; nachdem sie ihr Welteroberungsprogramm immer schüchterner vorzubringen gewagt haben, werden sie sich jetzt berechtigt fühlen, es uneingeschränkt oder noch vergrößert vorzubringen.

Es wäre aber ein grosser Fehler, das Bramarbasieren eines Ministers ernst zu nehmen, der durch den Sieg der Militärpartei ans Ruder gekommen ist. Auch dieser Ministerpräsident wird eines Tags von der Bildfläche verschwinden und einem andern Platz machen, der den Realitäten mehr Rechnung trägt. Alles Bluff! Der Friede muss kommen, bald kommen, denn jeder Staat fühlt sich in seinen Hoffnungen betrogen, und jede Regierung sieht ein, dass sie auch bei noch so langer Fortsetzung des Kriegs nichts erreichen kann. Die wahren Vorteile liegen für jede Regierung in möglichst baldigem Friedensschluss. Das wissen alle; damit man aber nicht merke, dass sie es wissen, suchen sie durch Drohreden à la Trepow die Lage zu verschleiern und dem Gegner Angst zu machen. Wells’ Wort: «kurz vor dem Friedenschluss wird der Bluff am grössten sein,» wird aktuell. Demnach müsste morgen der Frieden kommen.