Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 8. Juni.

Im ersten Kriegsjahr habe ich hier einmal von einem grünen Nebel gesprochen, der sich über die Menschen gesenkt zu haben schien und ihre Handlungen und Denken entstellt. Seitdem sind Jahre verflossen, Kriegsjahre, und der grüne Nebel ist zu einer dichten Wolke geworden, die die Luft verpestet, die Sinne verwirrt, das Denken krank macht und den Blick trübt. In seiner «Zukunft» (1. Juni 1918) fragt Harden, sehr zur Zustimmung reizend:

«Die Unterernährung des Leibes hat schon ein Heer neuer Krankheitserscheinungen vor den Blick des Arztes gestellt und sogar das Leben, die Kraft weiblicher Geschlechtsorgane traurig verkümmert, kann die Unterernährung der Seele, des Geistes, deren Fütterung mit unsauberem Ersatzstoff, irgendwo ohne üble Folgen bleiben?»

Nein, die Folgen sind deutlich erkennbar. Der dicke grüne Nebel umschwelt alles Tun.

Die neue Wendung des Kriegs ist wohl darin zu erblicken, dass deutsche Riesen-Unterseeboote — sie sollen 60 Meter lang sein — an der amerikanischen Küste erschienen und bereits eine Anzahl Schiffe torpillierten. Die amerikanischen Häfen an der atlantischen Küste sind geschlossen worden. Die Aufregung in der Entente, besonders in Amerika, soll ungeheuer sein. Sie ist erkennbar aus allen Berichten. Nun flammt in den Vereinigten Staaten auch der Hass gegen das Deutschtum auf, in jenem Land, das man als das größere Deutschland über See ansehen konnte. Was den Deutschen nur als berechtigte Wehr gilt, zeigt sich den anderen als Grausamkeit der Gewalt in ihrer schrecklichsten Gestalt. Es ist ja wahr, die Deutschen tun nichts andres als sich wehren, nichts andres als Krieg führen. Aber an sie heftet sich der Fluch des Sieges im modernen Krieg, des Sieges, der so grundverschieden ist von den Siegen in früheren Kriegen. Damals schlugen sich die zum Totschlagen engagierten Berufssoldaten. Hatten sie ihr Geschäft besorgt, ging das Leben weiter. Heute aber ringen die Völker in ihrer Gesamtheit, nicht nur die Uniformierten, auch die Frauen, Kinder, die alten Männer, heute opfert nicht nur der Soldat sein Leben, sondern auch das Volk, leidet das Volk, verliert das Volk, die Reichen wie die Armen, seine Güter und seine Habseligkeiten. Das zeitigt ein noch nie dagewesenes Rauben, Morden, Stehlen, Sengen. Und bei diesem fürchterlichen Ringen die Oberhand zu besitzen, den Vorteil zu haben, am meisten geraubt, gemordet, gestohlen und verbrannt zu haben, ist ein Fluch, ein böser Fluch, der von einem Volk nicht überwunden wird, zumal wenn die ganze Welt darüber einig ist, dass es die Regierung dieses Volkes war, die diesen endlosen, unentwirrbaren Krieg ausgelöst hat.

Vom militärischen Standpunkt ist die Zensur nur Wirksamkeit des Selbsterhaltungstriebes. Der Krieg und der Militarismus könnten keine drei Monate mehr leben in dieser Welt, wenn man die Zensur abschaffte. Nur solange man über diese Institutionen die Wahrheit verbergen kann, vermögen sie zu bestehen. Das sollte selbst die Denkfaulsten zum Denken anregen.

Was da im deutschen Reichstag wieder von den Vertretern der Opposition an Zensurchikanen enthüllt wurde, an kleinlichen Akten der Willkür, lässt erkennen, dass es eine heimtückische Bosheit, eine Art ungezügelter Sadismus ist, der sich da Luft macht. Die militärischen Notwendigkeiten sind nur ein Vorwand-Passepartout. Es ist skrupellose Herrschafts-, Beherrschungs-, Unterjochungslust gegen alles Andersgesinnte. Nicht die Spur ist vorhanden, dass sich die militärischen Zensoren als ein Teil des Volks fühlen, die über Volksgenossen wohlwollende Bevormundung im Hinblick auf ein gemeinsames großes Ziel vorübergehend auszuüben haben. Das sind Gegner, Feinde, die sich an Wehrlosen gütlich tun und ein Vergnügen dabei empfinden, sie in ihrer Macht zu haben und quälen zu können. Es ist ein entsetzliches Schauspiel, zu sehen, wie das Volk, unter dem Vorwand einen Feind abzuwehren, ohnmächtig gemacht und von dem innern Feind (Oh! es gibt einen «innern Feind»; nur nicht dort, wo ihn die Konservativen und Militaristen gewöhnlich zeigen) zertreten wird.

Dieser Heidenglaube an die Gewalt, ihre Erlösermacht zeitigt eine Rücksichtslosigkeit gegen alles in der Welt, zeitigt jenen Geist der Uberhebung, der keine Anpassung kennt und der, schließlich zur Rechtfertigung gedrängt, zur faustdicken Lüge führt und zu Ausflüchten, an die man wahrscheinlich selbst nicht glaubt.