Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. März.

Eine Periode unerhörter Spannung und unerhörten Drucks lagert über der Welt. Der Wunsch, zu einem Ende zu kommen, brennt in den Herzen aller, die nicht gerade Nutznießer des Kriegs sind, und doch sagt der Verstand, dass seit den deutschen Friedensschlüssen im Osten der Weg zum Frieden noch mehr verrammelt ist als vorher. Wie soll die neue, auf Vernunft begründete Weltordnung entstehen, wenn nach dem Osten hin ein Frieden der Gewalt errichtet wurde, der auf Jahrzehnte hinaus Unruhe, Rachewünsche und Rüstungen bedingen muss. Nach der Ukraine nun der «Friede» mit Großrußland, der Vorfriede mit Rumänien, der «Friede» mit Finnland, der die Souveränität dieses neuen Staatengebildes zugunsten Deutschlands beschneidet. Dabei haben die militärischen Aktionen noch gar nicht aufgehört. Die Deutschen haben die Aalandsinseln besetzt und operieren in Finnland, sie stehen vor Odessa und werden dort in den nächsten Tagen ihren Einzug halten. Die Unruhe wächst ins Riesenhafte gerade seit jenem Friedensschluss, wo man doch gehofft hat, dass ein Friede den gepressten Seelen endlich Luft und Ruhe gewähren werde. Über die gefürchtete Aktion im Westen schwebt noch immer das große Fragezeichen. Man weiß nicht, wieso man deutscherseits noch zögert mit jener Offensive, die man bereits zu Anfang Januar erwartet hat, und Stimmen werden laut, nach denen der Vorstoß zuerst in Italien zu erwarten sei, während andere Ägypten als das nächste Ziel des deutschen Kampfplanes bezeichnen. Dass es mittlerweile zum Frieden kommen könne, will jetzt niemandem mehr in den Sinn. Staatsmänner der Entente haben nicht aufgehört, zur unentwegten Fortsetzung des Kriegs zu drängen. Clémenceau stößt heftiger als je in das Sturmhorn:

«Ich führe Krieg! Überall gilt die nämliche Formel: in der innern Politik führe ich Krieg, in der auswärtigen führe ich Krieg, ich führe Krieg! Russland hat Verrat an uns begangen. Ich setze den Krieg fort! Rumänien musste kapitulieren. Ich führe den Krieg weiter und werde ihn fortsetzen bis zur letzten Stunde, denn diese wird unser sein!»

Ebenso ruft Lord Cecil seine Warnung vor Deutschland in die Welt, das sich, seiner Ansicht nach, anschickt, die Welt zu erobern, von Russland aus den fernen Osten bedroht und Sibirien germanisieren will.

Welche Hoffnungen nach einer Beendigung dieses Kriegs bieten sich nach alledem dar, und welche Hoffnungen auf die Errichtung eines wirklichen Friedens? Vielleicht wird Wilson einen Ausweg finden? Vielleicht?

Die Hartnäckigkeit des Endkampfes zeichnet sich schon ab in verstärkter Fliegertätigkeit. In zwei hintereinanderfolgenden Nächten bombardierten deutsche Fliegergeschwader Paris, die Deutschen, die neulich erst Venedig stark mit Bomben bewarfen, erschienen gestern über dem so fern im Süden liegenden Neapel. Von der Ententeseite wurden gestern württembergische Städte und Mainz durch Flieger heimgesucht. Jeder dieser zwecklosen, verbitternden und grausamen Raids stellt sich als eine Repressalie, als eine Wiedervergeltung, als ein «Strafakt» dar. Der ganze Fliegerkrieg lebt nur von Wiedervergeltungen und Strafhandlungen. Er wäre gar nicht möglich, wenn sich nicht jede Partei eine Art höhere. Mission suggerieren wollte, eine Befugnis, die eigne wahnsinnige Handlung als vernünftig, die gleiche Handlung des anderen als unzweifelhaft verbrecherisch anzusehen und dabei verlangend, dass auch die andern diese etwas ramponierte Logik als tadellos in Kauf nehmen. Am schrecklichsten mutet einem dabei das Gesalbader an, dass jetzt durch das Wolff-Bureau dem Bombenschmeißen auf Paris nachgeschleudert wird. Die Strafandrohung nach dem Fliegerraid über Paris, die ich am 9. Februar hier festhielt, hat ihre Wirkung nicht getan. Denn der Raid am 11. März wird wieder als eine «Vergeltung» verkündet. Das Dokument (Wolff-Depesche vom 11. März) muss hier abermals festgehalten werden.

«Unbelehrt durch unseren Strafangriff auf Paris in der Nacht vom 30. Januar und durch unsere erneuten Warnungen, haben die Gegner während der vergangenen Wochen wiederum friedliche deutsche Städte weit hinter der Kampfzone mit Bomben heimgesucht. Die angedrohte Strafe ist abermals vollstreckt worden. Paris war wiederum das Ziel unseres Vergeltungsangriffs. Dem verbrecherischen, verblendeten Verhalten unsrer Gegner entsprechend, wurde der Angriff mit noch größerer Stärke und Wucht geführt als der erste. Paris wurde mit insgesamt 23 706 Kilo Bomben belegt.»

Wahrhaftig, dieses Bombenschmeißen auf wehrlose Menschen ist für jeden Kulturmenschen, dessen Seele in dem Blutmeer dieses Kriegs noch nicht ersoffen ist, traurig genug. Aber nicht minder traurig ist diese fettige Pose des gekränkten Rechtes, dieser schnoddrig-korrekte Ton der züchtigenden Zurechtweisung mit dem Bestreben, das Verbrechergewand durch ein weib getünchtes Unschuldskleid zu verdecken. Die Worte «unbelehrt», «Strafangriff», «vollstreckt» zerreiben das Ohr, und der feine Unterschied, wonach der Gegner mit seinen Bomben die deutschen Städte «heimsucht», wir Paris aber «belegen», lässt die Galle hüpfen.

23 700 Kilo auf eine Riesenstadt! Aber wir «strafen» bloß, wir suchen nicht «heim», unser Verhalten ist gerecht, nicht «verbrecherisch-verblendet». Morgen kommen aber die Bestraften über deutsches Hinterland und streuen Tausende von Kilogramm auf deutsche harmlose Bürger und fühlen sich dabei auch gerecht und in der Pose des höheren Strafenden. Pfui über diese grausam naive Logik militaristischen Denkens! Nirgends so wie in diesem Fliegerunwesen, das für den Ausgang des Kriegs nicht die geringste Bedeutung hat, zeigt sich der Militarismus so in seinem wahren Gesicht, in seinen grenzenlos gierigen sadistischen Neigungen, in seiner Kulturwidrigkeit, in seiner menschenunwürdigsten Gestaltung.

Man begreife nur das Unlogische dieser sogenannten Logik. Was ist der Sinn dieser Strafgebärde? Sie sagt doch Wenn du mir Mannheim oder Pirmasens beschmeißt, beschmeiße ich Paris. Das heißt doch wiederum nichts anderes als das, wenn du mir Mannheim oder Pirmasens nicht mehr beschmeißt, so beschmeiß ich dir nicht mehr Paris. Es wird also im Effekt nichts anderes gesagt, als dass man den Fliegerkrieg aufzugeben bereit ist. Denn wenn der Gegner die Strafandrohung beachtet, kann man ihn doch nicht mehr strafen. Aber das sieht nur so aus, als ob man diesen Effekt erstreben würde. In Wirklichkeit wollen die Militärs gar nicht den Fliegerkrieg beseitigen, sie wollen sich nur eine Rechts-legitimation für ihre Vernichtungshandlungen konstruieren, die ihnen ja selbst so fürchterlich erscheint, dass sie gar nicht wagen, sie ohne diesen erkünstelten Rechtsschein anzuwenden. Sie wissen ganz genau, dass der ebenfalls vom militaristischen Geist besessene Gegner auf einen in Form einer Strafandrohung vorgebrachten Vorschlag zur Beseitigung des Fliegerverbrechens gar nicht eingehen kann. Sie wissen, dass der Fetisch des Prestiges, des militaristischen Ehrgeizes, die Furcht, den Verdacht der Feigheit zu erwecken, die Gefahr der Einstellung des Bombenschmeißens auf wehrlose Menschen gar nicht aufkommen lassen wird. Und das wollen sie ja. Und So tun, als ob ihnen das Wohl der Menschheit am Herzen liegt, wollen sie nur aber in einer Form, die ihnen nicht etwa ein Hemmnis im Ausleben ihrer sadistischen Neigungen bereitet, das ist ihre Absicht. Wäre das nicht ihre Absicht, wollten sie es nicht, dann gäbe es ja nichts Einfacheres, als statt der Form einer zur trotzigen Tat direkt aneifernden Strafandrohung das wechselseitige Einverständnis der Luftkriegausschaltung durch Vertrag anzuregen. Wenn ich bereit bin, Paris nicht mehr zu beschmeißen, sobald der Gegner Pirmasens nicht mehr beschmeißt, dann gibt es ja nichts Einfacheres, als dies durch einen Vertrag festzulegen. Dann muss man, statt zu drohen und zu «vollstrecken», durch Neutrale den Vorschlag zu einem Übereinkommen machen lassen. Dann hat man die Sicherheit, dass Mannheim und Pirmasens für alle Zeiten von diesen schändlichen Attentaten verschont bleiben. Das ist der gerade, der vernünftige Weg. Aber den zu beschreiten, hat man eben keine Lust. Man will sich grausam ausleben können.