Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

27. September 1914.

Der Anekdotencharakter der Zeitungen hält an. Lauter niedliche Erzählungen, nur keine Tatsachen. Aus dem Westen kam gestern wenigstens die Nachricht, dass ein Fort der Maasbefestigung südlich von Verdun von den Bayern genommen wurde. Aus dem Osten hört man gar nichts. Seit dem 23. soll Przemysl beschossen werden. Soll! Aber es dürfte richtig sein, da eine in englischen Blättern enthalten gewesene Nachricht, wonach zwei Przemysler Forts bereits genommen worden seien, dementiert wurde. Also es geht doch etwas vor. Leider nimmt der Pessimismus in Wien an Umfang zu. Es wird Vieles und Haarsträubendes erzählt. Wenn es nur zur Hälfte wahr ist, dann sind die Aussichten traurig!

Die deutschen Zeitungen beginnen jetzt amerikanische Briefe zu veröffentlichen, aus denen hervorgeht, dass das stammverwandte Deutschland drüben auf keine Sympathien stösst. Man schiebt hier die Schuld dem anglo-französischen Nachrichtenmonopol zu. Doch kann das nur ein Moment sein, nicht der Ursachenkomplex. Diese Gründe der Weltanimosität gegen Deutschland klarzulegen, wird eine der Hauptaufgaben nach dem Kriege sein. Vielleicht führt uns die Nachforschung auch zu einer Quelle der wirklichen Ursachen dieses Kriegs. Ich bin nämlich der Ansicht, dass dieser Krieg nicht eine Quelle besitzt, wie man annimmt, sondern mehrere, dass nicht ein Staat, sondern mehrere Staaten und mehrere Staatsmänner, dass nicht die letzten Worte, die letzten Entschlüsse der einen oder anderen führenden Persönlichkeit massgebend waren, sondern ein Zusammenwirken verschiedener Kräfte. Vor allen Dingen erscheint es mir, dass eine augenblickliche Lähmung oder Ausschaltung der Kulturhemmnisse gegenüber dem natürlichen Drang der Militärparteien aller Länder, endich einmal zur Ausübung ihres Berufes zu kommen, eingetreten war. Die Krisis war nämlich nicht um ein Haar gefährlicher als sonst die politischen Verwicklungen der letzten Jahre. Während aber früher die von dem Kulturdrang geschaffenen Hemmnisse richtig funktionierten und den unvermeidlich erscheinenden Krieg immer wieder vermeidbar machten, versagten sie diesmal durch eine ganz besondere Konstellation der Kräfte und konnten infolge der kurzen Befristungen der Entscheidungen nicht wieder in Funktion gebracht werden. Im Grunde genommen ist um einen Zustand nicht schade, wo der Umschwung von Frieden zum Krieg so lose versichert war. Und wenn es gelingt nach diesem Krieg diese Unsicherheit des internationalen Lebens durch eine erhöhte Sicherheit zu ersetzen, dann kann er in seiner Wirkung auch vom pazifistischen Gesichtspunkte nicht beklagt werden; wir hätten vernünftigere Methoden gewusst und haben sie gezeigt. Wenn die Zeit noch nicht in allen Ländern dafür reif war, so können wir das nur bedauern. Die Natur bricht sich selbst Bahn. Hier mit Ecrasitbomben und Schrapnells! —

Wie aber, wenn wir uns bezüglich des Kriegsergebnisses täuschen? Wenn auch die Operation keine Änderung herbeiführt und uns nur verstärkter Militarismus, verstärkter Hass in den Schoss fallen wird? Das wäre allerdings fürchterlich! Doch ich glaube nicht daran: la raison continue.

Die Sorge um die Zukunft des Internationalismus, die jetzt in den verschiedenen Zeitungen zum Ausdruck kommt, erscheint mir ganz unangebracht. Der Krieg hat die internationale Zusammenarbeit gestört, wie er den Verkehr und den Handel — doch übrigens auch nur Produkte internationaler Zusammenarbeit — unterbrochen hat. Kein Mensch bezweifelt, dass Handel und Verkehr nach diesem Krieg ebenso wieder aufgenommen werden, wie nach jedem anderen Krieg. Von dem übrigen, so reichen internationalen Leben bezweifelt man es, weil man fürchtet, dass die Hassgefühle dies verhindern könnten. Aber man vergisst, dass die internationale Zusammenarbeit nicht aus Liebhaberei betrieben wird, sondern einem urkräftigen Bedürfnis entspringt. Essen wird der Mensch, und kleiden wird er sich auch nach dem Krieg, und deshalb wird er sich der internationalen Zusammenarbeit nicht entziehen können, die, so differenziert sie auch sein mag, immer doch nur in dem Urtrieb des Menschen, die Umwelt seinen Bedürfnissen anzupassen, ihren Ursprung hat. Es wird vielleicht möglich sein, dass der eine Teil der im Kriege befindlichen Gruppen aus Schmerz über seine Niederlage sich von der Zusammenarbeit mit dem siegenden Teil wird zurückziehen wollen. Dies wird er aber nicht lange durchführen können, denn der Schmollende wird gegenüber der übrigen Welt nur einen kleinen Teil vertreten, für den es von Nachteil sein würde, abseits zu stehen. Er wird gar bald seine Abneigung überwinden und im eigenen Interesse Anschluss an der internationalen Zusammenarbeit suchen. Neues Leben, und hoffentlich vernünftiger organisiertes, wird aus den Ruinen erblühen.