Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

13. August 1914.

Das Wort «Missverständnis», das ich in meiner Betrachtung vom 10. August zur Anwendung brachte, kommt auch in einem Telegramm vor, das der König von England am 1. August an den Zaren gerichtet hat, das aber erst gestern (Abendblatt der «N. Fr. Pr.») veröffentlicht wird. Darin heisst es nach der Übermittlung der Nachricht, dass sich Deutschland Russland gegenüber im Kriegszustand befinde:

«Ich muss glauben, dass diese ernste Entschliessung aus einem Missverständnis entstanden ist. Ich wünsche auf das heisseste keine Gelegenheit zu versäumen, um die entsetzliche Katastrophe aufzuhalten, die gegenwärtig die Welt bedroht.

Deshalb wende ich mich an Sie mit einem persönlichen Appell, damit Sie das Missverständnis aus der Welt schaffen, das nach meinem Dafürhalten geschehen sein muss und damit Sie noch einmal den Weg für Friedensverhandlungen öffnen».

«Aus einem Missverständnis» entstanden!

Aus einem Missverständnis stehen also jetzt 20 Millionen Soldaten unter Waffen, speien tausende eherne Schlünde Tod und Verderben, bluten Millionen Mütterherzen, zittert das Riesengebäude unserer Wirtschaft und Kultur. Alles «aus einem Missverständnis» heraus? Sind vielleicht doch die Mittel der Verständigung nicht alle erschöpft worden? Es ist furchtbar, diese Frage stellen zu müssen; aber sie drängt sich auf. ~~

Seit dem Kriege schweigt alles, was zur pazifistischen Gemeinde gehört. Von keinem einzigen meiner pazifistischen Mitkämpfer erhielt ich nur ein Wort. Aber auch keiner von mir. Wir schwiegen vor Schmerz. Ich verstehe dieses Schweigen. Aber ich empfinde, dass trotz dieses Schweigens das Band der Ideengemeinschaft nur gefestigt wird. Der Tag wird kommen, wo die Überlebenden sich still und wehmütig die Hände reichen werden.

Doch heute flog mir das erste pazifistische Fachblatt auf den Tisch. Das erste seit dem Krieg. Es ist der Londoner «Arbitrator». Wie ein Bote aus verlorenen glücklichen Tagen heimelts mich an. Es ist die Augustnummer, an deren Spitze zwar von der «ernsten Situation» gesprochen wird, die über Europa hereingebrochen, aber doch der Hoffnung Ausdruck gegeben wird «in Sir Edward Grey’s influence for peace». — Und weiter heisst es: At any rate, Great Britain has no interests which would justify armed interference, and both the prime-minister and the foreign secretary have given solemn assurances, that we are under no Obligation, secret or otherwise, to assist either France or Russia in case of war». — So dachte und hoffte sicherlich die gesamte englische Elite, und gerade gestern berichten noch die Wiener Blätter von einem gegen einen Krieg mit Deutschland protestierenden Aufruf von Oxforder und Cambridger Professoren. Und dennoch heisst es jetzt allgemein wieder «das perfide Albion». —

Wehmütig stimmt mich in jener Augustnummer des «Arbitrator» der frohlockende Hinweis auf das «Coming of Age of the Universal Peace Congress Meeting next month at Vienna». Vorbei! Vorbei! Welche Hoffnungen setzten wir auf diesen Kongress, auf dessen Programm «das Problem der franco-deutschen Verständigung» stand. Jetzt stehen sich die deutschen und die französischen Heere mit ihren Riesenvernichtungswerkzeugen gegenüber, und das Blut der Blüte beider Nationen fliesst in Strömen wie vor 44 Jahren. Viel ärger noch.

Ich hoffe, dass unsere Arbeit, die den Krieg nicht verhindern konnte, sich doch so stark erweisen wird, zu verhindern, dass die beiden Nationen in so hasserfüllte Erbitterung verfallen werden, wie nach 70/71. Das Werk der Verständigung wird nach dem Friedensschluss sofort in Angriff genommen werden. Vielleicht alsdann mit grösserem Erfolg. Vielleicht wird sich nach dem Krieg auf beiden Seiten die Erkenntnis gestärkt haben, dass der Hass und die Erbitterung für das Glück der Menschheit keine Früchte tragen, und man wird sich über die Leichen der Erschlagenen hinweg die Hände reichen zu einem festen Bund der Kulturmenschheit.