Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 12. September.

Die Enthüllungen Burßews über Kaiser Wilhelms Depeschenverkehr mit dem Zaren veranlassen die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» (N. Z. Z. 11. IX.) zu Entgegnungen und weitern Enthüllungen. Es lässt sich natürlich alles rechtfertigen. Die N. A. Z. rechtfertigt den Versuch des Kaisers, mit Russland zu einem Bündnis gegen England zu kommen, mit dem «Geschäftsneid» englischer Schiffahrtsgesellschaften gegen deutsche Reedereien, weil letztere einen Auftrag zur Kohlenlieferung für die russische Flotte erhalten haben. Also deswegen sollte Mord und Totschlag entstehen, wegen eines «Neides» über ein Kohlengeschäft? Und die deutsche Diplomatie wusste eine, durch solche nichtige Ursache begründete Differenz nicht auf gütliche Weise, durch ein paar Worte, durch einen Wils vielleicht, aus der Welt zu schaffen? Sie wusste nichts Besseres zu tun, als sich angerempelt zu fühlen. Kino-Diplomatie, damals wie heute! Und der offiziöse Aff, der in der N. A. Z. von heute den Diplomaten-Unfug von damals verteidigt, sucht die Lage so ernst darzustellen, dass der Versuch mit Russland, und auch mit

Frankreich zu einem Bündnis zu gelangen nur ein Gebot der höchsten Vernunft gewesen wäre.

«Es bestand mithin,» so orakelte er, «die unmittelbare Gefahr, dass Deutschland, wenn es sich nicht durch diese Einschüchterungsversuche von der Ausübung des unantastbaren Rechts auf die überseeische Handelsfreiheit abschrecken lassen wollte, mit England und Japan in den von diesen Mächten herausgeforderten Krieg verwickelt wurde.»

Man danke: wegen des Geschäftsneides englischer

Reeder über deutsche Kohlenlieferungen! So irrsinnig soll eine Diplomatie über die Möglichkeit zur Auslösung eines Weltkrieges gedacht haben, und für so irrsinnig hält man das deutsche Volk und die übrige Welt heute noch, dass man ihnen das vorzusetzen wagt.

So sah also unsere Diplomatie aus! So sicher war der mit Milliarden gerüstete Frieden, dass eine einfache Geschäftsrancune zwischen zwei Kohlenhändlern den Frieden der Menschheit bedroht erscheinen lassen konnte. Nur der völlig verbohrte militärische Geist, der alle Vorgänge auf Erden, und sei es das Niesen eines Ausländers, als Anrempelei und Vorwand zum Wiederanrempeln ansah, vermochte solche Gedankengänge zu zeitigen.

Die beiden Depeschen, die die N. A. Z. hierauf publiziert, die Depeschen des Kaisers und die Antwort des Zaren sind von mannigfachem Interesse. So im Hinblick darauf, wie der Kaiser den Zaren anregt, seine Flotte zu vergrößern und ein paar Linienschiffe in Deutschland bauen zu lassen.

(«Ich habe sichere Nachrichten aus Italien, dass der Terni-Schiffsbautrust [Terni, Odero, Orlando] drei schnellaufende Hochseepanzerschiffe von je 12 000 Tonnen baut, für eine fremde, nicht genannte, Macht, wahrscheinlich Japan. Dies erinnert mich an meinen früheren Vorschlag, dass Du nicht vergessen solltest, ebenfalls neue Linienschiffe zu bestellen, um einige fertig zu haben, wenn der Krieg vorüber ist. Sie werden während der Friedensverhandlungen eine vorzügliche Überredungskunst ausüben. Unsere Privatfirmen würden sich sehr freuen, Aufträge zu erhalten »)

Diese Empfehlung und ihre Begründung sind eine lebhafte Illustration zu dem Kapitel des Rüstungswettbewerbs und der Zusammenhänge der Rüstungsindustrie.

Aber das Wichtigste in diesen beiden Depeschen ist doch der Hinweis, auf den sog. Hüller Fall. Sowohl der Kaiser wie der Zar sprachen davon, welche Aufregung darüber in England herrschte. Der Zar schreibt sogar:

«Die Minister des Landes unternehmen gewagte Schritte und senden freche Noten mit ganz unannehmbaren Bedingungen; das ist die Folge davon, dass man nach den Eingebungen des ersten Augenblicks handelt! »

Welch großartige Erkenntnis der Ursache aller Kriege! Welche wichtige Zustimmung zu der pazifistischen Forderung auf dilatorischer Behandlung zwischenstaatlicher Konflikte.

Und dann kommt der Satz, den wir heute, im vierten Jahr des Weltkriegs, mit besonderer Wehmut lesen:

«Heute befahl ich Lamsdorff, meinem Londoner Botschafter den Vorschlag zu gehen zu lassen, die ganze Frage einer internationalen Untersuchungskommission zu unterbreiten, wie es das Protokoll der Haager Konferenzen bestimmt.»

Man weiß, dass dieser Vorschlag angenommen, der Hüller Fall einer internationalen Untersuchungskommission unterbreitet und friedlich beigelegt wurde. Ein Konflikt, der viel mehr die öffentliche Meinung erregt und daher kriegsgefährlicher war als jener Konflikt, der dem Ausbruch des Weltkriegs voranging. Unwillkürlich erinnert man sich an des Zaren ähnlichen Versuch am 29. Juli 1914, der leider keine Zustimmung erhalten hat.

Warum hat er diese Zustimmung nicht gefunden? War die nach der serbischen Antwort an Österreich-Ungarn übrig gebliebene Differenz etwa schwerwiegender als der Hüller Fall? Hätte nicht jener Konflikt ebenso wie dieser geregelt werden können «wie es das Protokoll der Haager Konferenzen bestimmt»? Wäre es geschehen, die Welt wäre heute glücklicher. Und es ist nicht geschehen, weil unsre Kino - und Sherlock-Holmes-Diplomatie, die unter dem Bann der Militärs stand, solche Vorschläge nicht begriff und nicht einmal beachte. Und nun 24 Millionen Tote und Krüppel und viele hunderte von Milliarden zerstörten Reichtums.

Aufschreien muss man, aufschreien, mit der ganzen Krall des Zornes.