Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 8. Mai.

Die Übergabe der Friedensbedingungen hat gestern nachmittag in Versailles stattgefunden. Die deutschen Delegierten haben in engster Abgeschlossenheit in ihrem Hotel acht oder neun Tage warten müssen. Gestern durften sie vor den Vertretern der Sieger erscheinen, die bereits an der Hufeisentafel des Trianon-Hotels versammelt waren. An einer andern Tafel, den Siegern gegenüber, durften sie Platz nehmen. Schwurgerichtsarrangement.

Clémenceau sprach: «L’heure est venue du lourd regiement des comptes.» In einem dicken weißen Quartband wurden die Bedingungen übergeben.

Graf Brockdorff- Rantzau antwortete in deutscher Sprache: Wir sind besiegt und schuldig. Nicht allein schuldig. Aber «es sei fern von uns, unsere Verantwortung am Wellkrieg und an der Art, wie er geführt wurde, abzulehnen. Die Haltung der alten deutschen Regierung am Haager Kongress, ihre Tätigkeiten und ihre Unterlassungen in den tragischen Tagen des Jahres 1914 haben zu diesem Unglück beigetragen».

Das ist doch ein ehrliches Bekenntnis und eine traurige Rechtfertigung unserer Arbeit. Die Unvernunft im Haag, damals, jetzt vor zwanzig Jahren, führte uns nach Versailles.

Ich gedenke jener Tage; nehme meine Schrift über die erste Haager Konferenz zur Hand, die erste — und lange die einzige — die darüber in Deutschland erschien. Ich blättere darin. Meine Einleitung (von Ostern 1900) ist heute aktuell:

«Eine Schrift über die Haager Konferenz, ihre Bedeutung und ihre Ergebnisse musste veröffentlicht werden . . . Dunkler als das Innere Brasiliens ist dem größten Teil des deutschen Volkes das, was diese ewig denkwürdige Versammlung von Vertretern fast aller Kulturstaaten im Frühjahr des vergangenen Jahres gearbeitet hat, und was aus ihren Arbeiten herausgekommen ist. Wie die deutsche Kunst vor ,Friedrichs Throne', ging das Werk von der Haager Konferenz vor dem Thron der öffentlichen Meinung ,schutzlos und ungeehrt' dahin . . . Die Gleichgültigkeit und die vorherrschend abfällige Stimmung gegenüber den Erfolgen vom Haag haben schließlich nicht den geringsten Einfluss auf die wirkliche Bedeutung dieser Erfolge. Dies sind Tatsachen, die durch keinerlei Fälschung und durch keinerlei Handlung mehr aus der Welt zu schaffen sind. Die Haager Konferenz ist ein geschichtlicher Akt wie die französische Revolution, wie die Entdeckung Amerikas, wie die Erfindung des Schießpulvers; Umwälzungen weittragender Bedeutung, wie sie diese Ereignisse nach sich gezogen haben, wird auch die Haager Konferenz nach sich ziehen. Gewiss ist, dass die Tragweite von Ereignissen den Zeitgenossen in den seltensten. Fällen klar wird, dass ihr Blick zu sehr getrübt ist von begleitenden Nebenumständen, von Imponderabilien . . . Die Nebenumstände werden fallen, das Werk vom Haag wird wachsen und gedeihen, und der diesem Werk innewohnende Gedanke wird siegreich die neue Welt erobern, und die Tausende, die es heute missverstehen, werden ihm zujubeln.

Aber es handelt sich darum, für die Echtheit und für die Größe dieses Gedankens einzutreten, in alle Kreise, die heute noch zweifeln und höhnen, Belehrung und Erleuchtung zu tragen, ihnen das Große, das Gute, des Nützliche dieses Gedankens klarzumachen, sie aus engherzigen Betrachtungen herauszureißen zu großen Gesichtspunkten, durch die sie allein die gewaltigen Neugestaltungen erkennen können, die sich im Leben der Kulturvölker jetzt vollziehen, aus den Zeitgenossen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts zu machen.»

Ja, wie klein war die Schar, die damals erkannte, wie gering die Zahl jener, die mir Glauben schenkten.

Und an diesem traurigen Versailler Maientag, neunzehn Jahre nachdem ich dies geschrieben, bekennt ein deutscher Staatssekretär des Äußern Unsre Haltung von damals hat uns hierher gebracht.

Die Zeitungen beginnen Einzelheiten der Bedingungen zu veröffentlichen.

Elsaß-Lothringen ohne Abstimmung der Bevölkerung. Damit «das Unrecht, welches im Jahr 1871 den Ansprüchen Frankreichs und den Willen der elsässischen und lothringischen Bevölkerungen, welche trotz der Proteste ihrer Vertreter in der Nationalversammlung von Bordeaux von ihrem Vaterland getrennt wurden, gegenüber begangen wurde, wieder gut gemacht werden muss».

Das ist gut zu merken, für die Zeit, wenn die Deutschen in Südtirol, Nordböhmen, Südmähren, die Bewohner Danzigs ihre Proteste erheben werden gegen das Unrecht von 1919.

Verkappte Annexionen! Die Bestimmungen über das Saargebiet und Danzig, über Marokko und Ägypten mögen noch sehr umschrieben sein, sie sind Länderraub, Einwohnerschacher, weiter nichts! Und die fünfzehnjährige Besetzung des linken Rheinufers mit der Klausel:

«wenn nach fünfzehn Jahren die Garantien gegen den deutschen Angriff nicht als genügend erscheinen, wird die Räumung hinausgeschoben».

Wie lange? — Wer bestimmt das Genügen? Ist das nicht auch verschleierte Angliederung, nicht zumindest die Schaffung einer Situation, in der man hofft, die Bevölkerung der Rheinlande zur Loslösung bewegen zu können?

O Wilson! Was ist aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker geworden? Was aus den vierzehn Punkten?