Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

4. September 1914.

Heute morgen nach einwöchiger Abwesenheit aus Deutschland zurückgekommen. Am 29. und 30. August in Leipzig mit Edwin D. Mead und George Nasmyth zusammen. Auch Anna E. kam aus C. herüber. Herr H. aus Leipzig, Vorsitzender des Verbandes der Internationalen Studentenvereine Deutschlands in der Uniform eines Musketiers war auch dabei. Es war mir wirklich eine Freude, nach so langer Zeit der Isolierung, inmitten dieser betrübenden Ereignisse, wieder einmal mit Gesinnungsgenossen zusammen zu sein. Die Aussprache tat mir wohl. Mead gab sich Mühe, die Stimmung in Deutschland zu ergründen. Wir besprachen auch, was von seiten der Pazifisten geschehen müsse. Ich schlug vor, dass eine amerikanische Vermittlung bald einzusetzen hätte, und wenn sie abgelehnt werden sollte — was nur zu wahrscheinlich ist — immer wieder wiederholt werden müsste, solange bis sie Erfolg hat. Ich regte an, dass diese Vermittlung nicht von den Vereinigten Staaten allein kommen solle, sondern von Pan-Amerika, das ja in seinem Governing-Board in Washington, an dessen Spitze der Staatssekretär der Vereinigten Staaten steht, ein geeignetes Organ habe. Es müsste von grosser moralischer Wirkung sein, wenn ein ganzer friedlich geeinigter Kontinent dem zerklüfteten Europa seine guten Dienste anbietet. Auch das starke romanische Element, das in jener Organisation mit dem germanischen vermengt ist, wäre von gutem Einfluss für das Gelingen der Vermittlung. Mead schien diese Anregung sehr einzuleuchten. Er wolle sie den amerikanischen Diplomaten im Haag und London weiter geben. Er selbst erzählte von der in Amerika bestehenden Absicht, eine angesehene Delegation von hervorragenden Männern der Vereinigten Staaten nach Europa zu senden, damit diese bei dem Friedensschluss Hilfe leistet. Mit Mead bei Lamprecht gewesen. Sehr entmutigt. Lamprecht ist von der Notwendigkeit dieses Krieges überzeugt, als dessen Ziel er die «deutsche Weltmacht» hinstellt. Er ist Alldeutscher mit vollem Behagen. In dem Salon, in dem er uns empfing, war auf einem Tisch die Landkarte von Mitteleuropa ausgebreitet, die mit farbigen Fähnchen gespickt war. Eine Lupe lag daneben. Auf einem anderen Tischchen lagen nebeneinander gesammelte Nummern der «Kreuzzeitung» und der «Frankfurter Zeitung». Von Lamprecht gingen wir zu Professor Gregory, Professor der Theologie an der Leipziger Universität, geborener Amerikaner, der seit 40 Jahren in Deutschland lebt. Auch seine Frau ist Amerikanerin von Geburt. Wir trafen den Professor in der Uniform eines Musketiers. Mit seinen 67 Jahren hat er sich freiwillig zur Armee gemeldet; er macht jetzt die Ausbildung mit. Für ihn wie für seine Frau gilt es als ausgemacht, dass es sich um ein Komplott gegen Deutschland handelt.

Mit Mead und Nasmyth besuchten wir am Nachmittag den 29. August die «Bugra». Ein riesiges Unternehmen von hoher Kulturbedeutung, das Deutschlands ungeheure Geistesarbeit in heller Grösse erscheinen lässt. Aber der Krieg liess diese Ausstellung veröden. Die Pavillons der mittlerweile zu Feinden gewordenen Mächte sind geschlossen. Der Massenzuzug hat aufgehört. In dem grossen Hotel, in dem wir wohnten, gab es ausser uns nur noch zwei Gäste. Den Mittelpunkt der Ausstellung bildet «die Halle der Kultur». Gleich daneben steht der französische Pavillon, der eine Aufschrift trägt, worin dem Publikum mitgeteilt wird, dass das Gebäude nicht Frankreich gehöre, sondern von dessen Regierung nur leihweise benutzt wurde, weshalb es dem Schutze des Publikums dringend empfohlen ist. Wissen die guten Leipziger nicht, wie sehr diese Mahnung die Bedeutung der «Halle der Kultur» herabsetzt. Die Stimmung in Deutschland fand ich in höchstem Grade zuversichtlich, doch sehr ernst und nicht ohne Besorgnis. Diese wird nur durch den Gedanken hintertrieben, den ich oft genug ausdrücken hörte, dass gesiegt werden müsse, denn sonst wäre das Reich auf Jahrzehnte in seinem Aufstieg zurückgeworfen. Von Österreich-Ungarn ist wenig die Rede. Die Kriegsindustrie blüht. Zigarren, Schokolade, Wäsche etc. in Feldpostbrief-Verpackung ist überall zu sehen. Ansichtskarten, Kriegsbroschüren, Landkarten füllen die Fenster der Buchhändler. Jede und jede Familie ist durch den Krieg betroffen. Teils durch Familienmitglieder, die im Felde sind, teils durch den wirtschaftlichen Stillstand. Es ist zu erhoffen, dass dieser ernste Anschauungsunterricht eines unter der allgemeinen Wehrpflicht geführten Massen- und Maschinenkrieges auch dann nicht ohne Einwirkung bleiben wird, wenn er siegreich endigt. Das deutsche Volk wird jetzt mehr Gewicht darauf legen, die unbedingte Notwendigkeit eines Krieges selbst beurteilen zu wollen und wird die unverantwortlichen Lobpreiser des frisch-fröhlichen Krieges energischer zurückweisen, als es dies bisher getan hat.

Auf der Fahrt von Coethen nach Bernburg fuhren wir mit einem verwundeten jungen Offizier, der aus der Schlacht bei St. Quentin kam. Er hatte einen Streifschuss an der Schläfe und einen zertrümmerten Kiefer. Der Helm zeigte den Eindruck der Schrapnellkugeln, deren eine jene Verwundung herbeiführte . Er war guter Dinge und gab der Hoffnung Ausdruck, bald wieder an die Front zurückkehren zu können.

Während meiner Abwesenheit fiel die Vernichtung von Löwen. Die Ursache dazu war gewiss ernst. Aber die Empörung über die Vernichtung dieser alten Kulturstätte wird sich ausserhalb Deutschlands auch leider bei stichhaltigster Begründung nicht legen. Auch die Vernichtung der Bibliothek von Alexandrien ist von den Verübern begründet worden. Die Geschichte wird die Begründung wohl getreu berichten, aber die Menschheit sieht nur die Wirkungen.3)

Überhaupt ist dieser militärische Brauch, der auch Rache an Unschuldigen zulässt, mit unserem modernen Gewissen nicht mehr in Einklang zu bringen. Wir, die wir sogar im Schuldigen nicht mehr den Verbrecher sehen, sondern das bedauernswerte Produkt der ihn umgebenden Erscheinungen, die wir daher auch die Strafe der Schuldigen nach Möglichkeit zu mildern suchen, können uns nie und nimmermehr mit jener Praxis einverstanden erklären, die es für gerecht erachtet, ein ganzes Haus mit seinen Bewohnern anzuzünden, weil einer aus diesem Hause einen Schuss abgefeuert hat. Noch weniger können wir es billigen, dass eine ganze Stadt eingeäschert werde, weil es Leute gibt, die im Kriege ihre ungezähmten Apachentriebe loslassen. Apachen gibt es in jeder Stadt.

Und das sollte ein Recht bilden, das Leben und Lebensglück Tausender Unschuldiger zu zerstören? Löwen ist ein dunkler Fleck auf dem deutschen Ruhmeskranz, und man tut dem deutschen Volk einen grösseren Gefallen, wenn man dies offen zugibt, als wenn man der momentanen Stimmung Gehör schenkend, diese Tat mit «gerechtem Zorn» und «eiserner Notwendigkeit» zu rechtfertigen sucht, wie dies Max Osborn in der «Vossischen Zeitung» tut.

In die Zeit meiner Anwesenheit in Deutschland fielen starke Siege der deutschen Armee im Westen und Osten. Aber auch das verlustreiche Seetreffen bei Helgoland, die Versenkung des Hilfskreuzers «Kaiser Wilhelm der Grosse». Die ganze Zeit hindurch erfuellte mich der Gedanke an die galizische Schlacht mit Bangen. Sie scheint nach achttägigem Kampf schlecht ausgegangen zu sein. Die Österreicher, die teilweise gesiegt haben, scheinen doch in ihrem Zentrum durchbrochen zu sein, und Lemberg ist arg bedroht. Die Russen sind im Lande. Was mag diese Riesenschlacht an Opfern gekostet haben?


3

Die nachträglichen amtlichen Feststellungen lassen den
Umfang der Zerstörungen geringer erscheinen als es im ersten
Augenblick angenommen wurde. Sieh auch unterm 11. Sep¬
tember.