Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. November.

Heute vor zwei Jahren schloss Franz Joseph die Augen. Das Reich, dessen Oberhaupt er 68 Jahre gewesen, besteht nicht mehr. Sein Nachfolger sitzt als Kaiser ohne Land auf Schloss Eckartsau. Die Teile des Reiches haben sich selbständig gemacht, haben sich zu Republiken erklärt. Andere Teile fallen dem Feind anheim. Österreich-Ungarn gehört der Geschichte an. Welche Tragik!

Tragik überall! Ich vergesse nicht, was jetzt im Reich vorgeht. Der Wandel nach vorwärts, den wir erleben, darf uns die düsteren Schaltenbilder nicht vergessen machen. Der Zug der hundert Unterseeboote und der Großkampfschiffe in die englische Internierung! Wäre doch diese Flotte nie gebaut worden! Eines Kaisers Spielzeug, an dem das Blut einer Generation klebt. Der Rückzug der deutschen Heere, deren Ausmarsch einst so genial arrangiert war, dass ein Jubel und ein sogenannter «Seelenaufschwung» durchs ganze Reich ging. Wie stolz und zuversichtlich einst! Jetzt ein Anblick zerlumpter, ausgemergelter und zerbrochener Gestalten, die rückwärts streben. Bilder aus dem napoleonischen Rückzug von 1812 tauchen auf. Nachts um 4 Uhr zogen sie aus Brüssel. Wie der Verbrecher aus dem Mordhause. Als die Stadt erwachte, begrüßte sie eine Proklamation des Vizebürgermeisters, die den Bewohnern verkündete, «dass der Boden der Hauptstadt, seit dem 20. August 1914 beschmutzt, endlich gereinigt worden ist.» Die Menge gelobte sich, so berichten die Telegramme, die Raub- und Schandtaten der Deutschen nie zu vergessen!

Armes deutsches Volk! Wie bitter musst du deine Verblendung büßen, wie schwer wird die Ernüchterung dein Leben bedrücken nach dem infamen Rausch, in den dich der Alkohol deiner Mittelalterlichen versetzt hat.

Wie wird das deutsche Volk, wie seine unschuldige Masse, die nur Werkzeug war, sich reinigen? Und es muss sich reinigen von dem Fluch der Verachtung, der auf ihm liegen wird. Für Völker gibt es keine Magdalenenstifte.

Auch das verhängnisvolle Werk von Brest-Litowsk und Bukarest zerbricht. Vom Frankfurter Frieden bis zum Bukarester Frieden, die Panzerwerke der Gewalt zersplittern wie die Eisenbetonpanzer der Lütticher Forts vor den zweiundvierziger Mörsern. Alle diese Friedensschlüsse könnten eine Lehre bilden, mühten es. Wird der Friede von Versailles, oder welchen Namen er auch tragen mag, jener kommende größte Friedensschluss der Menschheitsgeschichte, ein anderes Werk errichten als jene verhängnisvollen Verträge des 19. Jahrhunderts von Wien, Frankfurt, Berlin und die Säbelverträge von 1918? Es ist anzunehmen; wenn auch im Augenblick die Gewaltideen wieder obenauf sind. Der Friedensschluss wird etwas anderes sein müssen als der Waffenstillstand, bei dem die strategischen Gesichtspunkte den Ausschlag geben und das Rache- und Vergeltungsgefühl der Soldaten zur Geltung kommt. Der Friede, an dem zum erstenmal alle Staaten der Welt beteiligt sein werden, wird eine Sicherheit gegen künftige Gewaltakte, wird eine Wettordnung einsetzen müssen, und da wird der Triumph, den Gegner gedemütigt und vergewaltigt zu sehen, nicht das Wichtigste sein. Unmöglich! Es wird schwere Arbeit geben, sehr schwere. Aber sie wird kinderleicht sein gegenüber den Anstrengungen, die der Krieg mit sich gebracht hat. Kluge und ruhig denkende Männer werden die neuen Grundlagen der Welt beraten, und diese können unmöglich die Fehler begehen, neues Dynamit unterdrückter Nationalität anzusammeln, das beim ersten Funkensprühen die Fundamente wieder sprengen wird. Die brennenden Fragen der Nationalitäten in dem ehemaligen Habsburgerstaat, am Balkan und in Russland werden gelöst, geordnet, die neu zu schaffenden Verhältnisse werden zu sichern sein, oder es bleibt, trotz des ungeheuren Aufwandes an Blut, trotz aller Hoffnungen über den Wandel in Deutschland und Österreich-Ungarn, alles beim Alten! Alles! Amerika, das die Führerrolle auf diesem Weltfriedenskongreß zu übernehmen berufen scheint, wird sich der Worte seines Abraham Lincoln bewusst sein müssen «Nothing is settled, what is not settled right!»

Zum erstenmal seit langen Jahren ist die «Friedens-Warte» wieder nach Deutschland und Österreich-Ungarn gelangt. Jubelnde Grüße mit Dank und Zustimmung von den alten treu gebliebenen Anhängern erhalten. Aufatmen auf der ganzen Linie.