Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 26. Februar.

Die Unternehmungen von Verdun schreiten fort. Die Deutschen melden über 10.000 Gefangene. («Wieder waren die blutigen Verluste des Feindes ausserordentlich schwer, die unsrigen blieben erträglich». — Erträglich!!) Die Franzosen melden Zurücknahme ihrer Linien. Die vierte Kriegsanleihe wird eingeschossen. Wenn Paris eine Messe wert war, wird Verdun zehn Milliarden bringen.

Im Preussischen Abgeordnetenhaus hat der Sozialist Stroebel in einer zweiten Rede auf die ihm von andern Mitgliedern des Hauses zuteil gewordenen Angriffe erwidert. Auch diese Rede ist voll ernster Mahnungen und wohltuender Wahrheiten. Er sagte u.a.:

«Auch militärisch urteilsfähige Leute sind der Meinung, dass in diesem Krieg höchstwahrscheinlich keiner den vollen Sieg davontragen werde, sondern dass, wenn der Krieg noch lange fortdauert, er zum Ruin und zur Verblutung aller Staaten führen werde und vielleicht zur Revolution, die ich persönlich nicht wünsche, die aber doch als Folge einer solchen furchtbaren verhängnisvollen Entwicklung eintreten könnte». Ferner: «Ehrliche Männer, die einen vernünftigen Frieden haben wollen, sind nicht nur in den Volksmassen aller Länder unter den Parlamentariern vorhanden, sondern vermutlich auch in Regierungskreisen. Nur meinen die Staatsmänner, sie könnten das nicht aussprechen, weil es als Zeichen der Schwäche gedeutet werden könnte».

Stroebel hätte hinzufügen können, dass die wirkliche Besiegung eines Teiles der Kriegführenden das grösste Unglück für den andern Teil und für die Menschheit überhaupt wäre. Wenn dies erst allgemein erkannt wird, dann zeigt sich die Utopie des Kriegs, der so unerhörte Opfer gebracht werden, in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Man muss die Friedensbereitschaft von dem Makel befreien, der ihr aus alt militärischer Tradition noch anhaftet. Diese Tradition passt ebensowenig in unsere Zeit hinein wie der Krieg.

* * *

Wilhelm Ohr

, der vor dem Krieg ein kluger Mitarbeiter an dem Werke der Verständigung von Volk zu Volk war, ist jetzt ganz aus dem Häuschen geraten. In der «Hilfe» (10. Februar) veröffentlicht er gegen den Pazifismus gerichtete Gedankensplitter, die er in Ermangelung von Zeit, Kraft und auch Papier auf die «Kehrseite der Parolezettel» geschrieben hat. Da sagt er uns:

«ln der Heimat, da gibt es sonderbare Leute. Wenn die über den Krieg und Frieden sprechen, so könnte man meinen, das seien zwei verschiedene Geschmacksrichtungen. Man ist entweder für das eine oder für das andere. Ist ,Krieg und Friede’ nicht etwas Höheres als ein Gegenstand der Parteinahme?

Oh, ihr Unverständlichen! Was würdet ihr zu einem Mann sagen, der während eines gewaltigen Gewitters andauernd erklärte, dass der Regen uns nass macht?» —

Sind wir wirklich so unverständlich? Nun zu jenem Mann würden wir sagen, dass er ein Narr sei! Ist denn aber der Krieg eine Naturerscheinung, ist er mit einem Gewitter zu vergleichen? Wie oft haben wir diesen Irrwahn widerlegt! Aber Wilhelm Ohr weiss es besser. Er schreibt auf die Rückseite eines Parolezettels:

«Wenn man die Leute reden hört, so könnte man glauben, Krieg und Frieden hänge von menschlichen Entschlüssen ab. Genaue Prüfung gerade auch dieses Krieges hinsichtlich seiner Ursachen und Vorgeschichte beweisen, dass die Vorstellung falsch ist, als ob Krieg und Frieden ,gemacht’ werde. Es mag Personen geben, die in bestimmter Lage glauben dürfen, dass sie durch ihren Entschluss jetzt Krieg oder Frieden bestimmen. Weh diesen, wenn sie dann eine vorgefasste Meinung haben, als ob der Krieg oder der Friede an sich gut oder böse seien. Es kann kein Zweifel darüber sein, dass der Krieg ebenso wie der Friede sittlich geboten sein kann, und ich stelle mir vor, dass diese wenigen Leute, die wirklich Einfluss auf solche letzten Entscheidungen haben, in der Regel das Gefühl haben müssen, lediglich die Vollstrecker tiefer treibender Ideen im Völkerleben zu sein oder auch göttlichen Willens, was dasselbe ist.»

Wenn dem so wäre, warum bemüht sich die deutsche Regierung den Nachweis zu erbringen, dass Grey und Sassonow den Krieg vorbereitet und gewollt haben, dass Deutschland «ruchlos» überfallen wurde? Nach Ohrs Auffassung müssten Grey und Sassonow, Iswolski und Delcassé «lediglich die Vollstrecker tiefer treibender Ideen im Völkerleben» oder gar «Vollstrecker des göttlichen Willens» sein. Man müsste ihnen dann, statt ihnen zu fluchen, Tempel bauen und Weihrauch streuen, diesen Werkzeugen Gottes und der höhern Vernunft! Und warum geben wir die Millionen jährlich aus für die Rüstungen, die uns doch — nach den offiziellen Erklärungen wenigstens — den Frieden erhalten sollen, warum versteifen wir uns jetzt auf so schwere Friedensbedingungen, die uns einen gesicherten Dauerfrieden bringen sollen, wenn Krieg und Frieden nicht von «menschlichen Entschlüssen» abhängen. Dann sollen wir doch alles gehen lassen, wie es kommen mag. Es hätte ja doch keinen Zweck, denn regnen kann es alle Tage.

Ich möchte Wilhelm Ohrs Behauptungen mit einigen Sätzen Norman Angells erwidern, der den Zweiflern, die «den» Krieg nicht für unvermeidlich ansehen, die Frage vorlegt, ob auch «Kriege» unvermeidlich sind, und diese Frage mit dem Hinweis auf Venezuela beantwortet, das in hundert Jahren 110 Kriege geführt hat, während Deutschland 44 Jahre Frieden hatte, «In Venezuela», sagt Norman Angell, «wird jede Wahl mit Waffengewalt erledigt. Der Staat unterwirft sich nicht dem kindischen Pazifismus einer gewöhnlichen Wahl.» Der Unterschied zwischen Venezuela und uns bestehe darin, «dass wir wissen, wie wir gegen die angebliche Unvermeidlichkeit des Kriegs anzukämpfen haben und sie nicht».

Man höre doch endlich damit auf, die Vernunft der europäischen Menschen und die Ehre des zwanzigsten Jahrhunderts zu verunglimpfen, indem man das grösste Übel der Menschheit, das ruchloseste zugleich, zur Potenz einer Naturgewalt oder zu einem «Element der göttlichen Weltordnung» zu erheben sucht. Dieses Mittel hat schon bei den Hexenprozessen und bei der Sklaverei Anwendung gefunden und ist der Lächerlichkeit anheim gefallen.

Von den hier angeführten Gedankengängen geleitet, kommt Wilhelm Ohr dahin, den Pazifisten nachzusagen, sie hätten «keine Ehrfurcht vor der Wirklichkeit bewiesen». «Sie eifern nach wie vor und zeigen fast mit Stolz, dass sie das alles vorausgesehen haben. Im übrigen haben sie leichtes Spiel, weil sie nur zu beweisen brauchen, was kein Mensch bestreitet, dass nämlich der Krieg etwas Grauenvolles, ein Dämon der Zerstörung und Vernichtung ist.» Also glaubt Herr Ohr wirklich, dass es uns nur darum zu tun war und noch nur darum zu tun ist, zu beweisen, dass der Regen nass macht und dass wir das schon vorher gewusst haben? Damit begnügen wir uns nicht, zu zeigen, dass wir alles vorausgesehen, sondern wir fügen noch eine Kleinigkeit hinzu: Dass wir auch den Weg der Vermeidung gezeigt haben, dass wir fortwährend auf den Abgrund hinwiesen, dem geblendeten Auges Europa zurannte. Wir warnten, wir schrien und bettelten um Einsicht, aber man lächelte überlegen und behauptete, dass man mit dem fortgesetzten Rüsten und Überrüsten den Abgrund vermeiden, den Frieden sichern werde. Das Unheil traf ein, wie wir es vorausgesagt, und diejenigen Stümper, die es nicht glauben und nicht erkennen wollten, reden sich jetzt auf «Naturgesetze», «treibende Ideen» und «göttlichen Willen» aus. Mit dem Nachweis, dass der Krieg Vernichtung, dass er ein grauenvoller Dämon ist, geben wir uns jetzt wirklich nicht ab. Das sieht heute jeder, auch jene, die so tun, als ob sie es nicht sähen. Aber, dass die Nichtvermeidung dieses Grauenhaften, da dessen Vermeidung möglich war, das unerhörteste Verbrechen ist, dass die Zukunft ein solches Verbrechen nie mehr sehen dürfe, und die Sicherheiten dafür geschaffen werden müssen, diesem Ziel gilt heute unsere Arbeit.

Die Entstellung dieser Absicht, die Betäubung des öffentlichen Gewissens mit der verschrobenen Lehre von der Unabwendbarkeit des Kriegs als einer höheren Einrichtung, und das Gefasel von den Wohltaten des Kriegs gefährdet unser Werk und leistet einer spätern Erneuerung des Gemetzels Vorschub.