Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. Januar.

Die Verhandlungen des deutschen Reichstags über die Zensur haben kein erquickliches Bild über die gegenwärtigen politischen Verhältnisse im Deutschen Reich geliefert. Über arge Mißstände wurde da geklagt. Das Schlimmste ist, dass einzelne Redner ihre Sorge für die Wiederherstellung von Recht und Freiheit für die Zeit nach dem Krieg durchblicken liessen. Der Regierungsvertreter (Ministerialdirektor Lewald) sah sich zu der Erklärung veranlasst, es sei «die Ansicht des Reichskanzlers, dass mit Friedensschluss alle einschränkenden Massnahmen ausser Kraft treten sollen». Das Wort «Ansicht» scheint mir hier nicht sehr glücklich gewählt zu sein. Ansichten können geändert werden, auch Reichskanzler können wechseln. Die Selbstverständlichkeit, die in dieser Ankündigung liegt, hätte etwas uneingeschränkter ausgedrückt werden müssen. Zumal trotz allseitiger Klagen der Parteien während des Kriegs doch alles beim Alten bleibt. Die Aussicht, dass die politische Bevormundung nach dem Krieg aufhört, ist jetzt die einzige Hoffnung.

Die gefährliche Mystik der Alldeutschen kommt in einer Rede des konservativen Abgeordneten Oertel zum Ausdruck, in der er sagt: «Unser letztes Kriegsziel ist die Erfüllung und Erreichung des weltgeschichtlichen Zieles, das ein Höherer dem deutschen Volk gesteckt hat. Dieses Ziel erreichen wir nur, wenn wir das Deutschtum wirklich durchzusetzen verstehen». Hier wiederum die Idee vom «auserwählten Volk». Mit dieser Mystik kann man jedes Verbrechen und jede Dummheit rechtfertigen. Ihre Vertreter machen sich ungeheurer Versündigung gegen Volk und Menschheit schuldig. Das Deutschtum «durchsetzen»! Mit Blut und Eisen zur höheren Ehre Gottes! Diese Leute sind mit Blindheit geschlagen; sie haben noch immer nichts gelernt aus diesen grauenvollen achtzehn Monaten des Weltkriegs. Mit solchen aber, die da wähnen, die Deutschen haben für ihre Blut- und Eisenarbeit einen überirdischen Auftrag zu erfüllen, kann man die Welt nicht organisieren. Sie sind die Gefahr für den Frieden. Sie müssen, sie müssen verschwinden!

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Kleine Lichtblicke aus einigen Notizen: Bei der Schlußsitzung des Kongresses der holländischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die im Januar in Amsterdam stattfand, sprach Camille Huysmans, der Sekretär der internationalen sozialistischen Zentrale über die Internationale.

«Die Internationale ist nicht tot», rief er unter dem Beifall der Anwesenden aus, «die Internationale ist niemals gestorben, denn sie kann nicht sterben, solange es eine internationale Arbeiterpartei gibt. Die Internationale ist tot, sagen die einen, weil sie nicht imstande gewesen ist, den Krieg zu verhindern. Die Antwort darauf ist sehr einfach. Die Internationale hat in der Beziehung voll ihre Pflicht getan, aber sie hatte noch nicht die Macht, um den Krieg verhindern zu können. Andere sagen: Die Internationale ist tot, weil die deutschen Sozialdemokraten für die Kriegskredite gestimmt haben. Auch das ist kein Argument. Die abweichende Haltung irgend einer Gruppe braucht noch nicht die Vernichtung des ganzen Organismus zur Folge zu haben. Ist die katholische Kirche tot, weil deutsche Katholiken gegen belgische Katholiken gekämpft haben?»

Eine andere Mitteilung besagt, dass in Amsterdam eine internationale Ausstellung von Kriegszeichnungen eröffnet wurde. Deutsche, Franzosen, Engländer, friedlich nebeneinander.

Dann: Deutschand und England haben der dänischen Regierung erklärt, dass sie die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Meeresforschung fortzusetzen gedenken.

Diese kurzen Notizen erinnern mich an den Schlussakt des Karl Hauptmann’schen Tedeums «Krieg», wo die übriggebliebenen Krüppel über den Schutt der Verwüstung wieder den Lerchengesang und den Rosenduft wahrzunehmen beginnen. Sie muten mich an, wie die Ahnung einer fernen Zeit. Wird alles wieder einmal vernünftig sein?

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Aber für heute ist selbst der kurze Friedenstraum, den uns die Übergabe Montenegros vorgegaukelt hat, wieder zerronnen. Nikita hat die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn wieder abgebrochen und rüstet zum Widerstand. Was werden unsere Wiener Leitartikler anfangen, die die feine Witterung des Montenegriners gepriesen haben, dass er, den Sieg der Zentralmächte als sicher ansehend, seinen Frieden mit ihnen machte? Soll man ihm jetzt eine neue Witterung andichten?

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Brief von X. gibt mir den Rat (13. Januar), jetzt nicht nach Deutschland zu reisen. Man müsste, um jetzt nach Deutschland zu kommen, ganz besonderes Vertrauen geniessen. «Wir Pazifisten erfreuen uns leider dieses Vertrauens nicht». Ferner: «Alle Freunde, mit denen ich sprach, waren deshalb der Meinung, dass man sie vielleicht nach Deutschland hinein, aber sicher, solange die heutige Auffassung herrschend sei, nicht wieder herauslassen würde». — Also: J’y suis et j’y reste!