Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Axenstein, 16. August.

Man muss jene beneiden, die die Widerstandsfähigkeit ihrer Nerven und ihre geistige Kurzsichtigkeit oder Blindheit bewahrt haben. Uns andern geht es schlecht; muss es immer schlechter gehen. Die Verlängerung des Kriegs bringt einen Zustand mit sich, der für die Zukunft immer weniger Hoffnung bietet. Mein Glaube an eine Reaktion der so arg misshandelten Vernunft nach Beendigung des Kriegs schwindet immer mehr. Immer mehr muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass der Krieg überhaupt nicht durch Vernunftschluss beendigt wird, sondern dass er rein mechanisch durch Erschöpfung erlahmen wird, ohne zu einer Entscheidung nach der einen oder andern Seite zu führen. Hass, der überall bleiben wird, wird Europa regieren und das an Vernichtung vollenden, was der Krieg etwa an Kulturwerten noch übrig gelassen hat. Die Erbitterung der Kämpfenden steigt und wird den Hass fest fundieren. Das Tierische im Menschen wird dieses zwanzigste Jahrhundert beherrschen, auf dessen erhabene Mission wir so stolz waren.

Wie wird es zwischen England und Deutschland werden, zwischen diesen zwei Staaten, die seit Weltbestand niemals Gegner waren. Das Urteil im Fryattfall erregt die heftigste Erbitterung. Der Forderung von Gegenmassnahmen, die im Parlament laut wurden, konnte sich die englische Regierung noch widersetzen. Wie lange wird sie es noch tun können? Jetzt wird der Fall von zwei englischen Gefangenen, irischer Nationalität, bekannt, die im Lager von Limburg von der Bewachungsmannschaft niedergeschossen wurden. In «Notwehr», wie die deutsche Erklärung angibt, da sich die Betreffenden in der Trunkenheit gegen ihre Wächter tätlich vergingen. Wieso diese, die bewaffnet waren, den unbewaffneten Gefangenen gegenüber in Notwehr gehandelt haben, werden wohl ausführliche Darlegungen erklären. In England jedoch wird es niemand glauben, geradeso wie man in Deutschland der englischen Auffassung nicht beipflichtet, dass Kapitän Fryatt sich dem deutschen Unterseeboot gegenüber im Zustand der Notwehr befunden habe. Hass, der zu Gegenmassnahmen verleitet, die wieder Hass erzeugen, ist das Ergebnis all dieser durch den Krieg bedingten Massnahmen. Und gerade jetzt veröffentlicht die deutsche Regierung ein Weissbuch über den schrecklichen Baralongfall. Im Schlusswort wird Vergeltung angekündigt. Eine Erwähnung, dass die deutsche Regierung es ablehnt, die Untaten der Baralongleute «etwa durch Erschiessung britischer Kriegsgefangener» zu vergelten, lässt es uns eiskalt über den Rücken laufen. Der Gedanke an die Möglichkeit einer Vergeltung durch Gefangenenmord ist auch dann fürchterlich, wenn er in ablehnender Form sich äussert. Diese Ablehnung zeigt doch nur, dass man solch Fürchterliches, und Wahnsinniges zugleich, doch in Erwägung gezogen hat und beschwichtigt die Angst nicht, dass dieser Wahnsinn, der zur gegenseitigen

Abschlachtung unschuldiger Menschen führen müsste, einmal und irgendwo doch zur Tat werden könnte. Die Vergeltung, die aber seitens der deutschen Regierung beschlossen wurde, soll in einer «rücksichtslosen» Anwendung der Luftwaffe liegen. Die Zeppelin-Raids, die in den letzten Wochen bereits sehr zahlreich und stark wurden, sollen also vermehrt und verstärkt werden. Die «Daily Mail» spricht bereits von der Möglichkeit, dass hundert Zeppeline auf einmal über England kommen und fordert natürlich auch zur Vergeltung auf. Ruft nach einer überlegenen Luftflotte und versichert, dass, selbst wenn ganz England zerstört werden sollte, der Krieg seitens England nicht früher aufgegeben werde, ehe nicht der volle Sieg über Deutschland erreicht ist. Wohin soll das führen, wenn nicht zu gegenseitiger Vernichtung und dauernd brennendem Hass? Der rächende Militarismus kennt — auf keiner Seite — Grenzen und Rücksichten. Wird das Wort der Suttner sich im unheilvollen Sinn bewahrheiten? Sie schrieb 1893 schon:

«Mit der Ära der Sprengstoffe hat die Gewalt eine Form angenommen, in der ihr die Gewalt nicht mehr beikommen kann. Und das bedeutet — entweder das Ende des Menschengeschlechts — oder das Ende der Gewalt. Wir hoffen das Letztere.»

Heute nach 23 Jahren muss man das Erstere befürchten. Solange der Militarismus hüben und drüben uneingeschränkt sein Handwerk treiben darf, ohne dass sich eine mächtige von Vernunft geleitete Hand dazwischen stellt und Einhalt gebietet, müssen wir fürchten, dass das Ende des Menschengeschlechts herankommt.

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Der Führer der Konservativen v. Heydebrand hat in einem öffentlichen Vortrag in Frankfurt a. Main die Kriegsziele erörtert. Die Fliegerangriffe auf Karlsruhe veranlassen ihn, zur künftigen Sicherung Badens gegen solche Angriffe eine Hinausschiebung der deutschen Grenze nach Frankreich hinein zu verlangen. Wie weit müsste dies geschehen, um Baden wirklich vor Fliegerangriffen zu schonen? — Bis zum Kap Finisterre? — Und wer garantiert, dass die Luftschifftechnik binnen wenigen Jahren nicht noch weitere Fortschritte macht, so dass auch eine solche Hinausschiebung der deutschen Grenze bis zum atlantischen Ozean ganz ohne Einfluss auf die Fliegermöglichkeit bleibt? Auf solch verschwommene Pläne hin wagt man es, dem deutschen Volk die Notwendigkeiten von Landangliederungen und die Unterjochung fremder Volksteile zu empfehlen, mit all den schweren Opfern, die es kosten würde, diese angeblich zum Schutz bestimmten Gebiete auch zu behaupten! Wagt man es, das Volk darüber zu täuschen, dass ein solcher Schutz die ärgste dauernde Bedrohung in sich schliesse. Die v. Heydebrandsche Forderung ergibt zweierlei:

Erstens, dass es den Annexionisten wirklich nicht um Gründe für ihre Landansprüche zu tun ist, sondern nur um Vorwände,

Zweitens, dass die Sicherung des künftigen Friedens durch Gewalt jeder Logik entbehrt.

Nichts erklärt dies deutlicher als die Annexionsforderung zum Schutz gegen Fliegerangriffe. Gegen diese kann nur eine vernünftige Organisation der europäischen Staatenwelt sichern. Will man das eigene Land gegen solche wahnsinnigen Angriffe schützen, muss man darin einwilligen, selbst auf solche Angriffe gegen die andern Länder zu verzichten. Das vertragsmäßige Verbot der Verwendung von Luftfahrzeugen zum Abwerfen von Explosivgeschossen, wie es die vernünftigen Europäer in Voraussicht des Entsetzens, das diese Waffe hervorrufen muss, schon vor dem Krieg verlangten, vermag das Grossherzogtum Baden allein vor solchen Untaten zu bewahren, nicht weitere Landangliederungen. Wer das nicht einsieht, hat keinen Verstand oder kein Gewissen.