Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 29. Dezember.

Der Artikel der «Neuen Zürcher Zeitung» erregt grosses Aufsehen. Er bildet das allgemeine Gesprächsthema. Auch das heutige Dementi des Wolff-Bureaus schwächt seine Bedeutung nicht ab. Es wird bestritten, dass man darin einen von deutscher Seite ausgehenden Friedensfühler erblicken könne. Nicht bestritten wird, dass der Artikel die Ansichten gut unterrichteter deutscher Kreise wiedergebe, nicht bestritten wird der in jenen Ansichten enthaltene Verzicht auf Annexionen.

Mögen die Ententemächte jene Vorschläge auch für unannehmbar halten. Sie könnten dennoch die Grundlage für eine Erörterung abgeben. Weniger konnte Deutschland nach seiner heutigen strategischen Situation kaum verlangen. Als Sieg werden diese Forderungen, selbst wenn sie in vollem Umfang erfüllt werden sollten, nicht ausgelegt werden können. Die Hoffnungen der Entente, auch diese Bedingungen nicht erfüllen zu müssen, sondern vielmehr die ihren aufzuerlegen, liegen in der Zukunft. Es müsste noch eine halbe Million Menschenleben geopfert, das Risiko einer ganz neuen Kriegsphase eingegangen werden, um diesen Hoffnungen reale Unterlagen zu schaffen. Es lohnte sich daher wohl, auf die deutschen Vorschläge einzugehen. Die Entente wird dadurch nicht als besiegt gelten können. Ein Vertrag, der auf Grund jener Friedensvorschläge zustandekommen würde, trüge den Stempel eines Ausgleichs unbesiegter Vertragsteilnehmer. Dies umsomehr, als er im Hinblick auf die künftige Organisation Europas und der anzubahnenden organisatorischen Friedenssicherung durch Gegenvorschläge noch bereichert werden könnte. Der Vorschlag in jenem Artikel könnte den Kampf auf ein Gebiet der Vernunft bringen. Er könnte dem grauenhaften Mord und der Vernichtung ein Ende machen, noch grauenhafterer und noch grösserer Vernichtung vorbeugen.