Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. Oktober.

Die 24. Kriegserklärung. England an Bulgarien. Das zweite Dutzend also!

Auf dem Balkan vollzieht sich jetzt in prachtvoller Reinkultur der Widerspruch zwischen Krieg und Recht; der lebendige Anschauungsunterricht für die Untauglichkeit aller Bestrebungen, einen Zustand rechtlicher Ordnung für den Fall der Unordnung zu schaffen, der Beweis der Fragwürdigkeit des Unternehmens, Verträgen Geltung zu verschaffen, solange die Anarchie den Cannevas der zwischenstaatlichen Gesellschaft bildet. Die Alliierten setzen sich über die Souveränität Griechenlands hinweg und landen ihre Truppen in Saloniki. Die selben Alliierten, die über den Durchmarsch Deutschlands durch Belgien ausser sich geraten waren. Freilich liegt der Fall hier etwas anders. Deutschland war Garantiemacht für die belgische Neutralität. Aber im Grunde genommen handelt es sich nur um einen Gradunterschied. Vertragsverletzung hier wie dort. Vertragsverletzung schliesslich durch Griechenland selbst, das mit Serbien einen Bündnisvertrag geschlossen hatte und den Bundesgenossen jetzt ebenso im Stich lässt und seine Untreue ebenso macchiavellistisch begründet wie es Italien den Zentralmächten gegenüber getan hat. Und hier sind es wieder die Zentralmächte, die der selben Handlung, die sie bei Italien verdammten, bei Griechenland lebhaften Beifall zollen. Die Begründung Griechenlands ist wohl noch grotesker als die Italiens. Der Bündnisvertrag hätte bloss für einen Balkankrieg gegolten und nicht für einen Weltkrieg. Jeder Balkankrieg trug doch den Keim eines europäischen Kriegs in sich, so dass die Begründung Griechenlands wenig Wahrscheinlichkeit besitzt. Wie, wenn der gegenwärtige Krieg mit einem Überfall Serbiens durch Bulgarien begonnen und sich erst dann zu einem Weltkrieg entwickelt hätte? Wäre Griechenland, das zu Beginn seine Bündnispflicht erfüllt hätte, im Verlaufe der Entwicklung zurückgetreten, mit dem Hinweis, dass die Erweiterung des Kriegs zum Weltkrieg es davon befreit, die begonnene Hilfe zu Ende durchzuführen? Möglich. Aber der Widerspruch in seiner Haltung wäre da nur umso krasser zutage getreten. Verträge am Balkan! In dieser Beziehung sind die Balkanstaaten schon ganz Kulturstaaten. Sie machen sich über Verträge lustig. Es ist ganz angebracht, hiefür an eine erst drei Jahre zurückliegende Affäre zu erinnern, die man nur zu sehr vergessen hat.

Es war am 2. Juni 1912. Der König von Bulgarien befand sich mit seiner Gemahlin und den beiden Prinzen in Wien. Bei einer Galatafel, die dem Gast zu Ehren in Schönbrunn stattfand, brachte Kaiser Franz Josef einen Trinkspruch aus, worin der Besuch der Königsfamilie «als neues Unterpfand der ausgezeichneten Beziehungen» bezeichnet wurde, die zwischen beiden Staaten bestehen. Der König von Bulgarien erwiderte diesen Trinkspruch und sagte dabei: «Mit besonderer Genugtuung erfülle ich heute die Pflicht und nehme gleichzeitig Gelegenheit, die wahren Gefühle zu bezeigen, die ich für Eure Majestät hege, deren erhabene Person sich in einer langen historischen Regierung den höchsten Anspruch auf Bewunderung und Achtung ganz Europas erworben hat. Ebenso glücklich wie Sie, Sire, in diesem denkwürdigen Augenblick ein Unterpfand mehr für die ausgezeichneten Beziehungen zu sehen, die zwischen unseren beiden Staaten bestehen, erhebe ich mein Glas zu Ehren Eurer Majestät und der ganzen kaiserlichen Familie.»

Dies war am 2. Juni 1912. Am 24. November wurde durch eine Indiskretion des «Matin» ein Vertrag veröffentlicht, womit sich König Ferdinand von Bulgarien am 29. Februar 1912 verpflichtet hatte, Serbien 200.000 Mann zu Offensiv- und Defensivzwecken gegen Österreich-Ungarn zur Verfügung zu stellen. Einen Tag später wurde vom «Matin» ein neues am 17. Juni 1912 in Varna unterzeichnetes serbo-bulgarisches Militärabkommen gegen Österreich veröffentlich. König Ferdinand von Bulgarien hatte also, als er am 2. Juni 1912 unter dem Dache des Kaisers von Österreich gefeiert wurde und von den «ausgezeichneten Beziehungen» sprach, die zwischen beiden Staaten herrschen, gegen diesen Monarchen und gegen diesen Staat ein geheimes Abkommen unterzeichnet, und dies fünf Tage nachher noch erneuert! Als diese Enthüllungen des «Matin» in die Öffentlichkeit kamen, befand sich König Ferdinand abermals in Wien, wo gerade die Delegationen tagten, die den Minister Berchtold ob dieser befremdlichen Enthüllungen angriffen. Da geschah nun folgendes: die offiziöse österreichische Presse beeilte sich, den kompromittierten König wie den kompromittierten Auslandsminister in Schutz zu nehmen. Nein, so hallte es aus den Zeitungen heraus, König Ferdinand hat nicht unkorrekt gehandelt, er hat nicht einen Vertrag gegen Österreich geschlossen und sich dennoch einige Monate später unter dem Dache des Kaisers als dessen dankbarer Freund aufgespielt! Nein! Damals am 2. Juni 1912 habe der neue König dem Kaiser vom Inhalt jenes Vertrages Kenntnis gegeben und loyal erklärt, - dass er nie daran denke, ihn zu halten. -

Und mit dieser «Rettung» gab sich die offiziöse Presse Österreichs zufrieden. Über diejenigen, die darob erschreckt waren, rümpfte man verächtlich die Nase als über Phantasten, die nicht begreifen können, dass in der Politik Gefühlswerte keine Bedeutung hätten. - Der Vorgang und seine Entschuldigung beleuchten zur Genüge, was Verträge bedeutet haben unter jenem ancien régime, das seit dem 28. Juli 1914 hoffentlich für immer überwunden ist.