Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. Juli.

Die gestrigen Zeitungen brachten folgende Depesche:

«Paris, 16. Juli (Havas). Wie der ,Herald’ aus Washington meldet, hat Wilson den Vorschlag Carranzas angenommen, wonach sämtliche Streitfragen zwischen Amerika und Mexiko einer aus drei Amerikanern und drei Mexikanern bestehenden Schiedskommission zu unterbreiten wären. Die Mitglieder dieser Kommission sollen unverzüglich ernannt werden».

Gibt das nicht zu denken? — War uns der Krieg der Vereinigten Staaten mit Mexiko nicht als etwas Unvermeidliches, die Lage als äusserst ernst hingestellt worden? Sprach man nicht schon von Mobilisierung, ja bereits von Kämpfen und Grenzüberschreitungen? Und nun endigt das Ganze in einer Schiedskommission! — Armes Europa! Siehst Du nicht in diesem Vorgang Dein ganzes Elend? Es zeigt, wie dort, wo nicht die militärischen Ideen die politischen beeinflussen, wo jene nur zu wirken haben, wenn sie von diesen gerufen werden, wo nicht der Rüstungsapparat, der den Frieden sichern soll, in einer den Frieden gerade gefährlichen Überspannung sich befindet, wo nicht die kriegerische Tradition und der militärische Ehrbegriff den Ausschlag geben, es der Vernunft vorbehalten bleibt, den Ausweg zu finden. Unsere europäischen Zeitungsschreiber, die jeden Krieg zu rechtfertigen und als unvermeidbar hinzustellen bereit sind, haben auch diese Auseinandersetzung zwischen der Union und dem unglücklichen Mexiko als etwas Selbstverständliches und Unvermeidliches erklärt. Nun schweigen sie. Mit jener kurzen Depesche ist der Fall für die deutsche Öffentlichkeit abgetan. Er entbehrt ja jetzt auch der Sensation. Und doch ist er für die Menschheit von grösserer Wichtigkeit als all die Kriegstaten, unter deren Fülle wir jetzt leiden.

Sie werden es sich schliesslich leicht machen, die Zeitungsschreiber. Für jeden nichtgeführten, durch Vernunftmassnahmen verhinderten Krieg haben sie eine entschuldigende Ausrede, die den eigentlichen Willen zum Frieden diskreditieren soll. Hier werden sie uns darlegen, dass der Friede nur deshalb zustande kam, weil die Union sich für den europäischen Konflikt die Hände freihalten wollte. Sie werden es nicht unterlassen, uns den vernünftigen Schritt Wilsons als eine schändliche Schwäche darzustellen. Wären Amerikas Handlungen frei, so werden sie uns erzählen, so hätte es den Krieg gewählt. Sie übersehen Vieles bei solcher Auslegung. Vor allem, dass es immer ein Verbrechen ist, den Krieg zu wählen, wo nur eine schwache Möglichkeit gegeben ist, die Wahl nach der Seite des Friedens zu treffen. Und weiter, dass Amerika in dem langen Konflikt mit Mexiko bereits den Frieden gewählt hatte, als vom europäischen Krieg noch keine Rede war. Man soll doch nicht vergessen, dass im Jahre 1913 bereits Blut geflossen, von den Amerikanern die mexikanische Hafenstadt Verakruz besetzt wurde, der Krieg bereits begonnen hatte, als die Vermittlung der A-B-C-Staaten einsetzte, ihre Vorschläge von beiden Staaten angenommen wurden, was im Mai 1914 zur Unterzeichung des Friedens von Niagara-Falls führte. Man soll doch nicht vergessen, dass jene Friedensmöglichkeiten bei ernstesten Konflikten ihren Untergrund in den mit der Tendenz zur Sicherung des Friedens errichteten Gebäude des Pan-Amerikanismus besitzt, den der ehemalige Präsident Taft einmal dahin definiert hat, dass er für die 21 Staaten der westlichen Halbkugel einfach bedeute, dass, wenn zwei unter ihnen in einen Konflikt geraten, die andern 19 nicht eher ruhen werden, bis es ihnen gelungen ist, diesen Konflikt friedlich beizulegen. Mit Recht konnte unlängst der Direktor der pan-amerikanischen Union, John Barrett, schreiben:

«Es ist meine innerste Überzeugung, dass, wenn nicht der Einfluss der pan-amerikanischen Union in ihrer internationalen Organisation gewesen wäre, wie sie durch ihren, alle Staaten der westlichen Halbkugel vertretenden, Verwaltungsrat zum Ausdruck kommt, die Vereinigten Staaten heute in einem langen und undankbaren Krieg mit Mexiko verwickelt wären ...»

Nein, die Vermeidung des Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ist nicht Schwäche, nicht politischer Opportunismus, sondern das Ergebnis eines Systems, das die Sicherung des Friedens auf eine andere Grundlage gestellt hat als auf die Spitze der Bajonette und auf die politische Einsicht militärtechnischen Denkens.

* * *

Der frühere österreichische Reichstagsabgeordnete von Trient, Dr. Battisti, der zu Beginn des Kriegs nach Italien geflüchtet war und Dienste in der italienischen Armee nahm, dann als italienischer Leutnant gefangen wurde, ist vor einigen Tagen nach dem Urteil eines Kriegsgerichts in Trient aufgehängt worden.

Das ist natürlich nur einer von den vielen hunderten Fällen dieser Art, die in diesem Krieg behandelt wurden. Nach den herrschenden Grundsätzen ist er rechtmässig. Und doch geht er in seiner Tragik zu Herzen. Dr. Battisti hat die Waffen gegen sein Vaterland geführt, und das Vaterland wehrte sich gegen ihn als gegen einen Verräter. Aber hat Battisti Österreich als sein Vaterland anerkannt? Gehörte er nicht vielmehr zu jener Partei, die eine Loslösung der italienischen Provinzen von Österreich erstrebte, und musste ihm nicht gerade deswegen eine mildere Auffassung zugebilligt werden, da er das Vaterland in Österreich nicht anerkennen wollte. Sicherlich war er dadurch nicht straflos, aber er hätte jene Milde verdient, die für spätere, ruhigere Zeiten eine Wiedergutmachung ermöglicht hätte, für jene Zeiten, die ja alle Vorgänge dieses Kriegs mit Nachsicht und Vergessenheit zu umschliessen berufen sein werden.

Jede Strafe wäre angemessener gewesen als die der völligen Vernichtung eines Mannes, der nicht rechtmässig, aber auch nicht ehrlos gehandelt hat. Wir hätten dadurch verhindert, dass wir den Italienern einen Nationalhelden schufen, der den Hass gegen uns durch Jahrzehnte nähren wird. Wir hatten es nicht nötig, ihnen eine Figur zu schaffen, die ihrem Volk ebenso teuer sein wird, wie uns ein Andreas Hofer, Schill oder Robert Blum. Ist denn der Krieg nicht schon fürchterlich genug in seinem zeitlichen Elend, muss denn dieses Elend noch verlängert werden über die zeitliche Dauer hinaus?

Man bedenke nur, wie man in Österreich und in Deutschland die Tat des Roger Casement beurteilte, und wie ungerecht man jenes Todesurteil empfand!