Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

16. Mai (Lugano) 1915.

ln Italien schwankt das Zünglein an der Wage noch immer. Zwei Politiker, die vom König mit der Kabinettbildung beauftragt wurden, haben abgelehnt. Das Kabinett Salandra-Sonnino soll wieder durch Hinzuziehung von Ministern ohne Portefeuille erweitert, zur Regierung berufen werden. Wenn es ohne Kriegseinmischung Italiens vorbeigeht, wird sich Fürst Bülow ein hohes Verdienst errungen haben.

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Romain Rolland erbat sich einige Exemplare der letzten «Friedens-Warte», um den Artikel Professor Försters einigen seiner Freunde zu übermitteln. Ein mir gänzlich unbekannter Leser der «Friedens-Warte» in Nürnberg teilt mir mit, dass er das Blatt in seinem Testament mit einem kleinen Betrag bedacht habe. Wenn der Betrag auch nicht gross ist, die Tatsache ist erfreulich.

In der «Wiener Arbeiterzeitung» (12. Mai) erscheint endlich ein Bericht über den Haager Frauenkongress. Dieser erwähnt zu Eingang, dass der Kongress «in der Stadt stattfand, wo der verödete ,Friedenspalast’ wie ein Hohn auf die zusammengebrochene Friedensspielerei (!) der offiziellen Diplomatie und auf den ohnmächtigen bürgerlichen Pazifismus wirkt». Die Sozialdemokratie sollte doch endlich aufhören, in das öde Geschimpfe über den sogenannten «bürgerlichen» Pazifismus miteinzustimmen. Sie ist am allerwenigsten berechtigt, sich über unsern Misserfolg lustig zu machen. Wir haben niemals erklärt, dass wir die Macht haben, den Frieden zu sichern, sondern nur, dass wir den Weg zu ihm kennen. Die Sozialdemokraten haben aber stets erklärt, das internationale Proletariat sei die stärkste Friedensmacht. Es allein werde der Welt den Frieden diktieren. Bürgerliche Friedenskongresse wurden von ihr stets als «leere Wortdrescherei» bezeichnet. Ja werden denn auf den sozialistischen Friedenskongressen 42-cm-Mörser abgefeuert? Was hat man denn 1912 in Basel anders getan, als was wir in jenem Jahre in Genf, 1913 im Haag taten? Und warum diese Verachtung des Worts? Ist die Sozialdemokratie etwa auch der Ansicht, dass sich aller Fortschritt nur durch Blut und Eisen vollziehe? Weiss sie denn nicht, dass es gar keine andre Beweger der Menschheit gibt als die Idee und die Diskussion? Auch dem Haager Frauenkongress gegenüber wird in dem angeführten Artikel der «Arbeiterzeitung» hervorgehoben, dass er Praktisches nicht erreichen konnte. Was heisst das «Praktisches»? Ein Kongress kann nicht Truppen marschieren lassen. Wenn aber das das einzige «Praktische» sein soll, dann könnten wir alle — einschliesslich der Sozialdemokratie — einpacken. Es gibt eine Macht der öffentlichen Meinung, und diese wird durch solche Kongresse zum Ausdruck gebracht. Das «Praktische» und der Erfolg des Haager Frauenkongresses lagen nicht in dem, was er beschloss, sondern in der Tatsache, dass er stattfand.

Und warum soll der Haager Friedenspalast einen Hohn auf die «zusammengebrochene Friedensspielerei der offiziellen Diplomatie» bilden? Die Diplomatie hat auf den Haager Konferenzen nicht gespielt, sie wurde gespielt! Sie fand sich widerwillig, von der durch den Pazifismus beeinflussten Macht der Tatsachen im Haag zusammen und musste sich widerwillig, im Kampfe mit den neuen Ideen, zu jenem Kompromiss verstehen, der in den Haager Abmachungen niedergelegt und im Haager Friedenspalast verkörpert ist. Es ist unklug von einer Partei, die dem Fortschritt dienen will, diesen Kompromiss durch Verunglimpfung zum Nutzen derjenigen zu entwerten, die ihn überhaupt nicht haben wollen, und die sich über diese unverständige Mitarbeit höllisch freuen werden. Klug wäre es, mit aller Kraft den Kredit und die Wirkungsfähigkeit jener noch unvollkommenen Einrichtung zu fördern! Haben nicht auch Sozialdemokraten in der Stunde der Gefahr verzweifelt nach dem im Haag geschaffenen Ausweg gewiesen?

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Die «Lusitania»-Angelegenheit führt zu betrübenden Folgen. Die Engländer kannten bislang keinen Deutschenhass. Nun haben sie ihn. Volksaufruhre in englischen Städten gegen Deutsche und Österreicher haben Schädigungen im Werte von vielen Millionen verursacht. Es tritt ein gesellschaftlicher und kommerzieller Boykott gegen die noch zahlreich in England lebenden Deutschen und Österreicher ein. Auch aus den Dominien, aus Kanada und Südafrika, werden Ausschreitungen und Zerstörungen gegen Personen und Eigentum gemeldet. In den Vereinigten Staaten rumort es. Weltbrand gegen alles Deutsche! Bei dieser Gelegenheit erfährt man, dass in England noch 40,000 Deutsche und Österreicher leben, die nicht interniert sind und bis jetzt ruhig ihren Geschäften nachgehen konnten. Jetzt sollen sie als Folge der Erbitterung über die «Lusitania» alle interniert oder ausgewiesen werden. In Deutschland sind bekanntlich alle Engländer ohne Unterschied interniert worden. Siebzehn Bankbeamte hat man kürzlich befreit, weil es sich herausgestellt haben soll, dass in England deutsche Bankbeamte ihrem Beruf nachgehen. — Der antideutsche Boykott nimmt jetzt so weiten Umfang an, dass man dort zu einer Massnahme schritt, die man zu Beginn des Kriegs zu ergreifen abgelehnt hatte, nämlich zur Streichung des Kaisers von Österreich, des deutschen Kaisers und zahlreicher deutscher Bundesfürsten aus der Liste der Besitzer des Hosenbandordens. Immer tiefer wird der Riss. —

«Wer über den Untergang der ,Lusitania’ urteilt, sollte den Hungerkrieg nicht vergessen, der gegen unsre Frauen und Kinder geführt wird und gegen den wir kein andres Mittel haben als den Unterseekrieg». Das sind Worte aus einer Erklärung, die der deutsche Gesandte in Christiania in einer norwegischen Zeitung veröffentlichte. Das ist auch die in Deutschland gebräuchlichste Rechtfertigung. Aber sie ist nicht richtig. Es ist nicht wahr, dass Deutschland hungert! In unzähligen offiziellen Mitteilungen und in der Presse wird der gesamten Welt verkündet, dass trotz Krieg und Blockade das deutsche Volk sich ausgezeichnet befinde. Es müssen einige Formalitäten beobachtet, einige Einschränkungen und Regelungen ertragen werden, aber nicht eine Frau, nicht ein Kind hungert. Dass die Absicht Englands nach andrer Richtung ging, soll nicht bestritten werden. Aber gegen die Absicht haben wir uns nicht zu wehren, sondern gegen die tatsächliche Wirkung, und die ist gleich Null! Wir dürfen also folgerichtig nicht sagen, dass wir gegen den englischen Aushungerungsplan «kein anderes Mittel» hatten als den Unterseekrieg. Wir hatten andre Mittel und wirksamere, als da ist das Getreide- und Kartoffelmonopol, die Brotkarte, die Verstaatlichung von Dauerfleisch usw. usw. Wir haben diese Gefahr erfolgreich abgewehrt. Sie dürfen wir daher als Argument nicht mehr gebrauchen. Etwas andres ist es, wenn wir die Notwendigkeit der Unterbindung der Waffenzufuhr anführen, etwas andres, wenn wir erklären wollen, dass wir die Absicht haben England auszuhungern.

Eine merkwürdige Tatsache! Die Unterseeboote, die bisher Schiffe versenkten, wurden bekannt gegeben, ihre Führer genannt und ausgezeichnet. Jetzt wird eine offizielle Mitteilung über die Torpillierung der «Lusitania» nach dem Bericht des Unterseebootes, das die Aktion durchgeführt hat, veröffentlicht, ohne dass das Boot bezeichnet, sein Führer genannt wird. Seltsam! Es war doch eine Heldentat?