Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

5. September 1914.

Die Verwundetentransporte kommen jetzt in grösseren Massen nach Wien. Gestern sah ich einen solchen zum ersten Mal. Am Ring bildete das Publikum Spalier. In Krankenautos und Strassenbahnzügen wurden die Verwundeten vorbeigefahren. Man jubelte ihnen zu. Das Publikum war tief ergriffen. Viele Frauen weinten. Welch ein Kontrast zu der Hurrastimmung nach der Kriegserklärung! Dabei sah man von dem Elend eigentlich nichts. Hie und da ein blasses Gesicht, eine schwach schwingende Hand, die die Zurufe erwiderte. Sonst alles mit jener Sauberkeit der Krankenpflege verdeckt. Das eigentliche Elend ahnte man nur. Aber selbst diese, wenn auch nur entfernte Berührung mit der Schlacht machte erschauern und dürfte in manchem Schädel das von uns so sehnsüchtig erwartete Denken ausgelöst haben.

Über die nun bereits zehn Tage währende Schlacht in Galizien lassen die Berichte kein genaues Bild zu. Sie sind, scheinbar absichtlich, vage gehalten. Tatsache scheint zu sein, dass die Schlacht auf der einen Seite den Österreichern Erfolge gebracht hat, auf der andern eine Niederlage. Sie wird unentschieden bleiben, ganz so wie Bloch es für die Schlachten des Zukunftskrieges vorausgesagt hat. Beide Teile werden Riesenopfer gebracht haben. Und wird es am Ende nicht mit dem ganzen Krieg ebenso gehen?

Eigentlich ist das bisherige Ergebnis des Krieges für Österreich-Ungarn niederdrückend. Die deutschen Truppen stehen vor Paris, haben die Russen aus Ostpreussen hinausgeworfen, und die Österreicher haben in diesen fünf Wochen der Kriegsdauer weder in Serbien noch in Russland irgend etwas erreicht. Opfer scheinen aber schon grosse gebracht worden zu sein.

Meine in diesen Blättern wiederholt vertretene Ansicht, dass dieser Krieg ein Präventivkrieg seitens der Zentralmächte sei, erhält eine Bestätigung durch einen Artikel Paul Rohrbachs in der «Hilfe» vom 27. August (Betitelt «Hoch Mittag»). Unter diesem freimaurerischen Titel wird eine ganz unfreimaurerische Idee entwickelt. Die Kennzeichnung des jetzigen Krieges als eines solchen, den man später unter ungünstigen Verhältnissen doch hätte führen müssen. Da heisst es: «Der Friede, jetzt erhalten, hätte uns, menschlicher Voraussicht nach, nur dazu für den Augenblick von den Opfern bewahrt, die wir jetzt bringen müssen, um uns wenige Jahre später unter schwereren Verhältnissen im Stich zu lassen. Es wäre kein guter, sondern ein fauler Friede gewesen». Ich glaube, unkluger kann die Situation nicht beleuchtet werden, als durch diesen Satz. Wie kann man dann noch von einem aufgezwungenen, von einem Verteidigungskrieg sprechen, wenn man zugibt, dass der Krieg später doch hätte geführt werden müssen, dass der Friede, den wir aufgegeben, ein «fauler Friede» war. Gewiss war er nicht das Ideal eines Friedens, er enthielt aber die Bedingungen, die uns durch internationale Verständigung und den fortgesetzten Ausbau der zwischenstaatlichen Organisation zu einem wirklichen Frieden hätten führen können. Der jenem angeführten Satz folgende Nachsatz sollte den Verdacht, als handle es sich um einen Präventivkrieg, beseitigen: «Das haben auch die Lenker der Geschicke Deutschlands gewusst», heisst es dort, «und es ist der Beweis für ihre aufs höchste gesteigerte Gewissenhaftigkeit, dass sie trotzdem auch den letzten Möglichkeiten des Friedens noch nachgejagt haben, unter denen es noch ein Friede zum Heile Deutschlands hätte werden können». Das ist eine schwache Versicherung. Wenn der Friede ein «fauler» war, und der Verdacht bestand, dass der Krieg wenige Jahre später uns unter ungünstigeren Verhältnissen aufgedrungen worden wäre, dann war das Nachjagen nach den «letzten Möglichkeiten des Friedens» kein Beweis der Gewissenhaftigkeit, sondern eher der Gewissenlosigkeit der «Lenker der Geschicke Deutschlands». Man kann auch nicht recht daran glauben, dass man wirklich und mit dem Wunsch nach Erfolg den letzten Möglichkeiten eines Friedens nachjagt, von dem man weiss, dass er ein «fauler» ist, dessen Aufrechterhaltung eine Gefahr in sich birgt.

Der Artikel hat noch andere Schwächen, die aus dem Bemühen entstehen, einerseits zu beweisen, dass man alles getan habe, um den Krieg zu vermeiden, andererseits darzulegen, wie notwendig dieser Krieg war, da er uns später unter ungünstigeren Verhältnissen aufgedrungen worden wäre.

«Der Krieg, dem wir gestern durch die Preisgabe Österreich-Ungarns hätten entgehen können, war uns für morgen von Russland und Frankreich doch zugedacht». — «Nun stellen wir uns vor, was es für uns bedeutet hätte, um den Preis, dass wir Österreich zur verhängnisvollsten Nachgiebigkeit zwangen, uns vielleicht noch zwei Jahre sogenannten Friedens zu kaufen. Dann hätten wir 1916 ein soweit ausgebautes Eisenbahnsystem in Polen und Westrussland gehabt, dass die Russen an unserer Grenze von Ostpreussen bis Schlesien aufmarschiert und uns mit aller Macht anfallen konnten, bevor wir mit den Franzosen fertig wären. Dann hätten wir usw. — — —»

Man sieht die Beweisführung der Präventivkriegs-Apostel. Sie kombinieren immer, wie es später hätte sein können, sie vergessen aber in die Kombination miteinzubeziehen, dass «alles fliesst», dass neue Bedingungen wieder ganz neue Situationen schaffen, die wieder neue Auswege, oder neue — vorher kaum geahnte — Kompromisse zeitigen. Sie sehen die Zukunft immer von dem irrigen Gesichtswinkel einer unverrückt gebliebenen Gegenwart. Nicht nur die bedrohlichen Momente wandeln sich, auch die Menschen, ihre Anschauungen und Ideen; und vieles, was uns vom Standpunkt der Gegenwart unmöglich und unabwendbar erschien, hat sich, wenn wir dazu gekommen sind, glatt gelöst. Ich erinnere immer wieder an jene Worte Ernest Renans: «Wieviele Fragen in der Geschichte des armen Menschengeschlechts wollen dadurch gelöst sein, dass man sie nicht löst. Nach Verfluss von etlichen Jahren ist man ganz überrascht, dass die Frage gar nicht mehr vorhanden ist.»

Das Beweisverfahren der Präventivkriegsapostel ist nicht nur schwach aufgebaut, sondern auch verbrecherisch. Sehen denn diese Leute nicht ein, dass ihre Methode in die Praxis übertragen, den ewigen Krieg bedeuten würde? Denn man kann dann zu jedem Augenblick unserer Zeitgeschichte entweder hüben oder drüben den Präventivkrieg für unbedingt gerechtfertigt erachten. Wir kämen dann aus lauter Vorbeugungskriegen nicht mehr zum Frieden. Narren und Verbrecher sind es, die dem eigenen Volke und der gesamten Menschheitskultur äusserst gefährlich sind.

Uns Pazifisten kann das Gebaren dieser Vorbeugungs-Krieger nur recht sein. Sie zerstören ihr eigenes Gebäude. Der Grundsatz «Si vis pacem, para bellum» wird durch nichts besser widerlegt, als durch die Präventivkriegs-Theorie. Um den Frieden zu erhalten, musst Du gut gerüstet sein. Wenn Du aber sehr gut gerüstet bist, besser gerüstet als Dein Gegner, dann führe einen Krieg, damit Du ihn nicht später führen musst, wenn Dein Gegner besser gerüstet sein wird als Du. Kurz: Wenn Du den Frieden willst, rüste den Krieg; wenn Du den Krieg gerüstet hast, dann führe ihn. Also: Wenn Du den Frieden willst, — dann führe den Krieg! — Das ist das moderne Hexeneinmaleins. —