Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Juni.

Der Vorwurf, den ich (17. Juni) den deutschen Mehrheitssozialisten gemacht habe, dass sie ihre Stellungnahme zur Umwandlung der deutschen innern Politik in Stockholm darzulegen unterließen, wird einigermaßen gegenstandslos durch einen Artikel des nach Berlin zurückgekehrten Scheidemann im «Vorwärts». In diesem «Draußen und daheim» betitelten Aufsatz (24. VI.) behandelt Scheidemann das wichtige Thema der umgehend notwendigen Demokratisierung Deutschlands vor seinen Landsleuten.

Es ist mit diesem bemerkenswerten Aufsatz das eingetreten, was ich bereits am 22. April als das wahrscheinliche Ergebnis der Stockholmer Konferenz bezeichnete. Ich schrieb damals:

«Vielleicht wird die Sozialistenkonferenz in Stockholm das Ergebnis zeitigen, die deutschen und österreichischen Regierenden auf die richtige Fährte zu bringen. Die deutschen und österreichischen Sozialisten werden mit Erfahrungen nach Hause zurückkehren und ihre Regierungen belehren, wo der Pfad zum Frieden liegt. » Ich fügte hinzu: «Das kann ein wichtiges Ergebnis der Beratungen in Stockholm sein.»

Und nun kommt der aus Stockholm zurückgekehrte Scheidemann und schreibt am 24. Juni.

«Wir können, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen. Jedoch die Pflicht treibt uns, den Weg zu suchen, der uns aus dem endlosen Völkermord herausführt. Und da ist mir das, dessen ich mir schon zuvor bewusst war, in Stockholm erst recht zur unerschütterlichen Überzeugung geworden. Es geht nicht ohne eine durchgreifende Demokratisierung Deutschlands.»

Und die in Stockholm gewonnene Überzeugung sucht Scheidemann nun dem deutschen Volk und der Regierung klar zu machen.

«Tiefgreifende, weithin sichtbare Reformen sind jetzt nötig», schreibt er, «und es ist keine weitere Verschiebung des Termins statthaft, wenn unser Volk nicht den schwersten Schaden leiden soll. Wir müssen leider — trotz Stockholm — fürchten, dass wir einem vierten Kriegswinter entgegengehen. Ihn, wenn es möglich ist, in Ehren zu vermeiden, ist unsere Pflicht. Ein Mittel dazu — gewiss auch kein unfehlbares, aber doch immerhin ein erfolgversprechendes — ist die Demokratisierung Deutschlands.»

Wird es nun den deutschen Sozialdemokraten gelingen, ihre in Stockholm gemachten Erfahrungen ihrer Regierung aufzudrängen? — Wird sie auf die Stimme der Warner hören, die in der Welt draußen ihre Erkenntnis geholt haben? Kaiser Wilhelm hat am 21. Juni zu seinen Truppen gesprochen. Der Text der Rede wurde durch den offiziellen Telegraphen in der Welt verbreitet. Der Kaiser hat dabei von der Erkämpfung des Friedens gesprochen, «den wir für unsere Weiterentwicklung nötig haben. » lieber die Beschaffenheit dieses Friedens gehen die Meinungen weit auseinander. Zum Schluss sagte der Kaiser: «Es wird nicht locker gelassen, bis ein glücklicher Friede erstritten ist.»