Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 9. September.

Die Enthüllungen aus dem Suchomlinowprozess werden von der deutschen Presse weiter breitgetreten in dem Sinn, dass damit die völlige Unschuld Deutschlands an dem Krieg dargetan sei. Das Einzige, was hoffen lässt, dass die Überzeugung nur eine gemachte und keine innerliche ist, bekundet das tiefe Aufatmen der Erleichterung, das aus diesen Presseerzeugnissen und öffentlichen Kundgebungen herauszuhören ist.

Den Ton gab ein Reichskanzler-Interview an, das dem Direktor des Wolff-Bureau «gewährt» wurde. Dr. Michaelis als Erläuterer der Kriegsschuld ist eine sonderbare Erscheinung. War der gegenwärtige Reichskanzler im Juli 1914 eine so einflussreiche Persönlichkeit, dass er eingeweiht wurde in die geheimen Vorgänge jener Tage? Er war es nicht, und er hat seine Kenntnisse nur aus den zensurierten oder national bornierten Zeitungen. Sie werden dadurch nicht beweiskräftiger, dass sie jetzt im Kreislauf über den Reichskanzler wieder in die Zeitungen gelangen.

Um dieses Interview zu wiederlegen, müsste man ein Buch schreiben. Kein Satz ist unanfechtbar, und «die Legende von der deutschen Schuld am Krieg» wird Herr Dr. Michaelis nur bei jenen, allerdings zahlreichen Leuten in Deutschland zerstören, die dank der Zensur von jener Legende vorher noch gar nichts gehört hatten.

Auch der Artikel, «Fragen und Antworten» betitelt, in der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» vom 7. September (N.Z.Z. Telegramm a. Berlin v. 7. IX.), der sich mit den Ergebnissen des Suchomlinowprozesses befasst, scheint vom Reichskanzler herzurühren. Es ist darin viel von Gott die Rede. Die Enthüllungen werden als «göttliches Strafgericht» bezeichnet.

«Die Worte, mit denen der Kaiser beim Ausbruch des Kriegs gleichsam vor Gott trat, sind ihm (dem deutschen Volk) Zeugnis und Beweis genug, denn es fühlt und weiß, dass der Kaiser selbst in einem solchen Augenblick schon die leiseste Unwahrheit als Lästerung und Herausforderung des Ewigen empfinden würde . . .»

Unwillkürlich fällt mir die in meiner Jugend von mir verschlungene Geschichte Christoph Schmidts vom bösen Dietrich und vom guten Gottlieb ein.

Die Einnahme von Riga wird dem deutschen Volke als «Befreiung» Rigas eingeprägt. Es wird ein Jubel über wiedergewonnenes deutsches Land angestrengt. Deutschland war seit seinem Bestand glücklich ohne Riga, es hat dessen Ausschluss aus dem Reich nie als Unglück empfunden. Warum soll es jetzt glücklich sein? Das militärische Regime, die mittelalterliche Romantik, die Städte und Burgen eroberte, will es so. Die Romantik des Befreiens und Erlösens spuckt unsrer Wirklichkeit in die Suppe. Mit derselben Logik kann man morgen Wien «befreien». Diese Logik fragt nicht danach, dass sie eigentlich den Gegnern die Forderungen auf Metz, Posen, Danzig legitimiert. Wenn wir alte deutsche Hansastädte als berechtigtes Eigentum reklamieren, warum sollen die Dänen nicht Kiel, die Polen nicht den Osten Deutschlands, Österreich nicht Schlesien fordern dürfen?

Mit dem Indianergeist des Militarismus können wir nicht rechten. Dieser wird nie begreifen, dass es für das Glück der Menschen nicht darauf ankommt, zu welchem Bezirk ihre Häuser gehören, sondern nur darauf, dass sie in diesen frei leben und denken können. Gäbe es keinen Militarismus mit seiner Unterjochungspraxis, so gäbe es keine Befreiungsgründe und die Menschen der verschiedensten Sprachen und Abstammung würden ruhig die Briefmarken eines andern Landes verwenden, statt jener, die zufällig von dem Gros ihrer Stammesgenossen gebraucht werden.

Es ist im Leben hässlich eingerichtet . . ., dass nach der «Befreiung» Rigas und dem Kanzler-Interview über die Unschuld Deutschlands am Krieg gleich die Ankündigung der siebenten Kriegsanleihe kommt. Die öffentliche Meinung wird mit Selbstbewusstsein über diesen Sieg und über diese Unschuld, wie mit der Entrüstung über die Wilson-Antwort an den Papst zubereitet für die Kriegsanleihe wie ein Beefsteak à la tatare mit Salz, Pfeffer, Kapern, Sardellenschnitten und Eidotter. Fritz, armes, betörtes Volk!