Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

2. März (Zürich) 1915.

Friedrich Naumanns Kriegschronik bietet mir immer eine reiche Quelle für Betrachtungen. So auch die letzte (14.—22. Februar in der «Hilfe» Nr. 8). Auf der Rückkehr von einem kurzen Aufenthalt in Wien und Budapest schreibt er: «Es ist doch etwas Grosses, dass von der Nordsee bis nach Siebenbürgen ein gemeinsamer Herzschlag vorhanden ist». Etwas Grosses? — Ja, aber das ist es ja, was wir Pazifisten auch wollen. Nur noch weiter erstreckt. Sagen wir: von der amerikanischen Küste am stillen Ozean bis zur Weichsel und den Karpathen. Wie gross ist erst das! — Unmöglich? — Warum? Grössere Gegensätze in nationaler, kultureller, politischer Hinsicht oder aus geschichtlicher Erinnerung als zwischen der Nordsee und Siebenbürgen gibt es zwischen dem Stillen Ozean und der österreichisch-deutschen Ostgrenze auch nicht. Im Gegenteil: Geringere. Und die Grundlage eines solchen gemeinsamen Herzschlages wäre vorhanden. Er könnte in friedlicher Kulturarbeit erzeugt werden und brauchte nicht erst der rauhen, gewaltsamen und doch etwas kostspieligen Instrumentierung durch den Krieg. Man wirke erst einmal durch die Kanäle der öffentlichen Meinung mit demselben Hochdruck für eine Kulturunion der Völker Mittel- und Westeuropas und Nordamerikas, wie man für die Kriegsgenossenschaft zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich gewirkt hat, und man wird sehen, welchen Elan die bereits vorhandenen Empfindungen auslösen werden. Der Kriegselan wird gegen diesen Sonnenglanz fahler Mondschein sein. Es würde wirklich «etwas Grosses» sein. Viel leichter erscheint es mir, diese riesenhafte Kulturunion zu bewirken, als jene Nachbarsolidarität, zu deren Hervorbringung eine Welt kriegführender Gegner notwendig war.

An einer andern Stelle der «Hilfe» (21. Februar) lese ich folgendes: «Überall im Lande ist ein Telegramm angeschlagen, es sei ein englisches Transportschiff mit zweitausend Soldaten im englischen Kanal versenkt worden. Die Gesichter strahlen vor Freude.» Diese Feststellung wird ohne Bemerkung vorgebracht; sogar mit einer deutlich erkennbaren Genugtuung. Das ist das Fürchterliche. Ich begreife, dass der Krieg, in dem das Vernichten von Menschenleben einfache Äusserung des Selbsterhaltungstriebs ist (da es heisst: Du oder ich), gewisse Genugtuung erzeugen kann durch Vernichtung des Gegners, der ausgesandt wurde, uns zu vernichten, dass aber dabei die Gesichter «vor Freude strahlen» müssen, ist einfach eine entsetzliche Verirrung. Derartige Äusserungen beweisen, dass wir nicht mit dem erforderlichen sittlichen Ernst über jener fürchterlichen Einrichtung stehen, die wir «Krieg» nennen. Man erlaube mir einen Vergleich. Die Todesstrafe, die die Gesellschaft von einem Gegner befreit, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Krieg, dessen Endziel ja auch darin liegt, den Staat von der Gegnerschaft eines andern Staates durch Tötung oder sonstige Unschädlichmachung seiner auf unsre Vernichtung hinzielenden Bürger zu befreien. Nun denke man sich einen Staatsanwalt, der über die an einem Delinquenten vollzogene Todesstrafe sich vergnügt die Hände reiben, oder eine Bevölkerung, die den amtlichen Anschlag über die vollzogene Hinrichtung mit «vor Freude strahlenden Gesichtern» lesen würde. In solchen Fällen wird die Achtung vor der strafenden Gerechtigkeit eher Mitleid mit dem Opfer aufkommen lassen und mit Trauer jene erfüllen, die Zeugen der Ausführung des Urteils sind. Warum betäubt der Krieg in solchem Umfange unser sittliches Empfinden, dass wir uns nicht schämen, angesichts eines so grauenvollen Ereignisses wie es die Versenkung eines mit 2000 jungen menschlichen Lebewesen gefüllten Schiffes ist, vor Freude zu strahlen, und wie kommt es, dass ein sittlich so hochstehender Mann wie Naumann, ganz ohne Hemmung, mit sichtlicher Genugtuung, diesen Freudenausdruck feststellt, nur dem einzigen Bedenken Raum gebend, dass «die offizielle Bestätigung noch fehlt»? Ich bin überzeugt, dass die Wenigsten, die sich über jene angebliche «Versenkung» von 2000 Menschen freuen, sich dazu herbeilassen würden, der Ertränkung einer neugeborenen Katze beizuwohnen. — Das mangelnde Vorstellungsvermögen der Menschen ist leider ein wichtiges Beiwerk der kriegerischen Routine.

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Über die Geschichte und den Bau des Panamakanals hat hier in Zürich ein Gelehrter einen Vortrag gehalten, über den die «Neue Zürcher Zeitung» (Nr. 245) interessant berichtet. Dieser Kanal, den die Menschheit als eine ihrer grössten Wunderwerke betrachtet, hat eine zehnjährige Arbeit und einen Kostenaufwand von 1800 Millionen Franken erfordert. Das ist eine Summe, die uns früher unendlich hoch erschien. Heute gibt sie Europa in acht Tagen aus für Werke der Zerstörung. Seit sieben Monaten wöchentlich die Kosten des Panamakanals. Dreissig solcher Wunderwerke hätte man sich für das bis jetzt für den Krieg ausgegebene Geld schon leisten können. Und welch unendlich höhere Summen, welch unendlich grössere Arbeitsleistungen werden nötig sein, um all die Zerstörungen wieder herzustellen, die in diesen sieben Monaten des Kriegs bewirkt wurden. Diese Arbeiten werden, wie man glaubt, das wirtschaftliche Leben nach dem Krieg zur Blüte bringen. Einfältige Wirtschaftspolitiker werden alsdann dem Volk einreden, dass der Krieg die Wirtschaft befruchtet. Sie werden bloss die Kleinigkeit übersehen, dass all diese aufzuwendende Arbeit, dieses auszugebende Geld, die Menschheit nicht um Haaresbreite vorwärts bringen, ihr nur dazu dienen werden, etwas was sie besessen, wieder herzustellen, das sie aber, wenn sie den Besitz nicht zerstört hätte, durch ihre Arbeit, die dann für die Wiederherstellung verwendet werden muss, ungeheuer hätte bereichern können. Der Krieg ist kein Reichtum-Vermehrer, er ist ein Zerstörer! Er hindert die Entwicklung!