Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

16. August 1914.

Heute vor zwei Monaten nahm ich teil an jenem denkwürdigen Bankett bei Ledoux in den Champs-Elysées in Paris, das Nicholas Murray Butler zu Ehren gegeben wurde. Der ehemalige Präsident Loubet präsidierte, der damals neu angetretene Unterrichtsminister Augagneur sprach, ebenso Prinz Roland Bonaparte, Boutroux, Bergson u. a. Dem Bankett wohnten viele führende Pazifisten bei, so Norman Angell, Hirst, Miljukow, Lammasch, Nippold, Perris. Es waren gegen hundert Personen der Pariser Gesellschaft, der Wissenschaft, der Kunst, der Diplomatie und des Pazifismus anwesend. Alles atmete feinste Kultur, und das Gefühl einer sich festigenden Völkergemeinschaft durchglühte uns. — Heute vor zwei Monaten! Wie entsetzlich hat sich seither das Bild geändert. Rauh erschüttert die internationale Anarchie die Welt. Und der alte luxemburgische Minister v. Eyschen, der an jenem Bankett ebenfalls teilgenommen hat, hatte Recht, als er mir von den beängstigenden Massnahmen sprach, die an den Grenzbahnhöfen von Luxemburg auf deutscher wie auf französischer Seite zwecks Truppenverladung vorgenommen wurden, und als er die Situation seines Landes als zwischen zwei mächtigen Puffern befindlich darstellte. Er ahnte wohl nicht, dass er wenige Wochen später gegen die Besetzung des Landes durch deutsche Truppen werde protestieren müssen. Überhaupt, wer ahnte damals.

Der Lloyd-Dampfer «Gautsch», ein Prachtschiff des Österr. Lloyd, ist bei Pola untergegangen. Ursachen werden nicht mitgeteilt. Er scheint auf eine von uns gelegte Mine gestossen zu sein.

Der österr.-ungarische Botschafter am Quirinal, Graf Merey v. Kapos-Mere, mir persönlich bekannt aus den Haager Tagen, ist plötzlich erkrankt und wurde durch den mir ebenfalls bekannten, ersten Sektionschef im Ministerium des Äussern, v. Macchio, ersetzt. Was geht mit Italien vor? Seine Neutralität ist ein feindlicher Akt. Man spricht davon, dass es ganz unverhüllt «feilscht» und das Trentino verlangt. Der Dreibund ist dadurch dem andern Bündnissystem gegenüber in Nachteil gesetzt. Hier wird seitens Italiens der Einwand des «rebus sic stantibus» unverblümt zur Geltung gebracht.

Vom serbischen Kriegsschauplatz wird nunmehr die Offensive der österreichisch-ungarischen Armee gemeldet. Ganz kurz nur. Aber die Worte «auch unsere Verluste sind beträchtlich» besagen viel.

Gestern bekam ich einen Brief von d’Estournelles mit Poststempel vom 30. Juli. Geschrieben noch früher. Ein Beifallswort über einen vor 7 Jahren in «Paix par le Droit» veröffentlichten Artikel, worin ich darlegte, Nationen seien keine geistige Einheit. Es gibt in jeder Nation verschiedene geistige Stufen mit verschieden gearteten Handlungen, so dass man für eine Handlung nie die ganze Nation verantwortlich machen darf. D’Estournelles will diesen Artikel verbreiten lassen unter seinen Freunden «qui ne cherchent pas si loin et se contentent de crier à bas la guerre, vive la paix». — Ich freute mich mit diesem Lebenszeichen aus einer andern Welt. Die Welt vom 29. Juli 1914 ist am 16. August nicht mehr die selbe.