Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

19. November (Bern).

Die lange Pause in den Eintragungen besagt nicht, dass es mir an Stoff gemangelt hätte, das Gegenteil ist der Fall. Während ich zu Beginn dieser Tagebuchblätter noch über einzelne Artikel, über einzelne Briefe und Äusserungen meine Bemerkungen machte, meine Eindrücke wiedergeben konnte, stürmen jetzt diese zur Festhaltung und Besprechung geeigneten Erscheinungen in solcher Masse auf mich ein, dass ihr Überreichtum mich oftmals zum Stillschweigen verdammt.

Die Verirrung, das Hineinfressen in den gegenseitigen Hass wächst im Kubik. Es sinkt die Hoffnung, jemals — wenigstens im Raume des eigenen Lebens — daraus heraus zu kommen. Die Lektüre der Zeitungen wird immer widerlicher. Einige Beispiele: In der (Wiener) «Zeit» vom 15. November macht einer darauf aufmerksam, dass die Verwendung der Mistelzweige zu Weihnachten eine englische Sitte, infolgedessen verwerflich sei. «Die Mistel» so heisst es, «ist das unter den Pflanzen, was die Engländer unter den Völkern sind, eine Schmarotzerpflanze.» Kann man den Wahnsinn weiter treiben? — Sollen wir alles, was englische Sitte ist, deshalb, und nur deshalb, aufgeben? In der selben Nummer der «Zeit» wird angekündigt, dass der Fünfuhrtee im «Hotel Bristol» wieder begonnen hat. Auch eine englische Sitte. Das tägliche Bad ist auch eine englische Sitte. Und hundert andere Gewohnheiten unseres Lebens. Ja, bringt es der Krieg mit sich, dass wir nichts mehr von unserm Gegner nehmen dürfen, soll uns jetzt nur allein erlaubt sein, die Sitten der Türken, unserer teuren Bundesgenossen, anzunehmen? Und wie kommt der ehrenwerte Ächter der Mistelzweige dazu, das Volk Shakespeares, Newtons, Darwins, Stephensons, Listers, Spencers als «Schmarotzervolk» zu bezeichnen? Ist das nicht eine Verhöhnung unsrer selbst, eine Besudelung unsrer eigenen Kultur? Der betreffende Einsender kann sicherlich nichts für diese Entgleisung. Für diese schwachen Intelligenzen gilt es jetzt wirklich als etwas Gutes, in das allgemeine Hassgetöse mit einzustimmen. Der jenen schönen Vorschlag und den schönen Vergleich der Mistelzweige mit dem englischen Volk gemacht hat, meint sicherlich, er habe etwas zur Grösse der Zeit beigetragen, wie jenes alte Weib dies gemeint hat, das sich bemühte, Holzscheite zu dem Scheiterhaufen des Huss zu tragen. Der Ruf des Märtyrers «O sancta simplicitas» geht dabei auch uns von den Lippen. Nur die Redaktion muss man bedauern, die es gestattet, in ihren Spalten solche Holzscheite zum Scheiterhaufen, auf dem die gesunde Vernunft schmort, herbeizutragen. Hier kann man sich mit dem Staunen über die Einfalt nicht zufrieden geben und muss seine Verachtung über die Niedertracht ausdrücken.

Hier

sieht man,

hier

an dem Treiben der Presse, die Wurzeln des Krieges bloss liegen. Die Presse und die Waffenfabriken sind der Bazillus der Kriegserregung.

In der gleichen Nummer der «Zeit» beklagt sich ein Wiener Schildermaler, dass die Wiener Geschäftsleute die französischen und englischen Wörter auf ihren Firmenschildern noch immer mit Papier überklebt haben. Sie scheinen, so denunziert der brave Mann, nur ein Provisorium mit der Verbannung fremdländischer Bezeichnung im Auge zu haben, und sie sollen doch nun endlich daran gehen, ihre Vaterlandsliebe dadurch zu bezeugen, dass sie ihre Firmenschilder mit rein deutschen Aufschritten neu malen lassen. Der gute Schildermaler will auch Patriot sein und etwas verdienen.

Das «Neue Wiener Journal» berichtet über den Lord-Mayorstag unter der Überschrift «Das Bankett der Heuchler». Der Bericht beginnt folgendermassen: «ln der Guildhall von London hat vorgestern, wie alljährlich, das berühmte Lord-Mayors-Bankett mit seiner traditionellen Schildkrötensuppe, mit all dem zeremoniellen Plunder (!), an dem der Engländer fast so sehr hängt wie am Gelde, stattgefunden.» Diesen «Plunder der Tradition» hat Spencer die Ablagerung der Kultur genannt! Das «Neue Wiener Journal» denkt anders.

Aber ich will nicht ungerecht sein und nochmals betonen, was ich hier schon wiederholt betont habe; die englische und französische Presse ist nicht weniger ekelhaft. Vor einigen Tagen stand im «Matin» ein Artikel Hanotaux’, der allen Ernstes behauptet, die Deutschen führten durch die Unterbringung der Angehörigen der kriegführenden Staaten in Konzentrationslager die alte Sklaverei wieder ein. Er vergisst ganz, dass mit der Internierung der ausländischen Bevölkerung die Franzosen angefangen haben, dass die Engländer ihnen folgten, dass die Russen, die Serben das Gleiche tun, und Deutschland als letzter Staat dabei gefolgt ist.

Dieser verbohrte Hass auf allen Seiten, diese Unmöglichkeit, sich auf das Menschentum zu besinnen, was uns jetzt so höllisch entgegenstarrt, ist leider kein Erzeugnis des Kriegs. Die Erscheinung wird durch ihn nur augenfälliger. Die Grundlagen dazu sind auch im Frieden vorhanden und wirken latent für den Militarismus und schliesslich für den Krieg. Und doch sind diese Grundlagen nur durch das System der Anarchie begünstigt. Sie werden verloren gehen durch eine Organisation der Kulturwelt.

Meine Bemerkung über Ernst Horneffers Rede «Der Krieg» in diesen Tagebuchblättern (22. September S. 95 u.F.) hat den Hauptpastor an der Hamburger Michaeliskirche D. Hunzinger veranlasst, mir seine Kriegspredigt «Gottesbeweise» (gehalten am 13. September) einzusenden und mein Augenmerk auf eine rot angestrichene Stelle zu lenken.

Diese Stelle lautet:

«Es gibt jetzt nur eine Klasse von Menschen, die wirklich zu bedauern ist. Das sind nicht unsre Soldaten draussen, die ihr Blut vergiessen müssen fürs Vaterland, das sind auch nicht zurückgebliebene Eltern und Frauen, Schwestern und Bräute, die ihr Liebstes lassen müssen; das sind auch nicht die durch den Krieg Verarmten und Entwurzelten. Sondern das sind die, die auch jetzt noch nichts merken von dem Wehen des göttliches Geistes.»

Ich danke Dir, Priester, für Dein Mitleid. Es beruht auf Gegenseitigkeit.

Der Winter hat begonnen. Die Landschaft ist mit Schnee bedeckt. das Elend des Krieges wurde dadurch nur erhöht. In Deutschland mangelt es bereits an Petroleum und an Fetten, ebenso zeigt sich Mangel an verschiedenen Gebrauchsartikeln in Österreich-Ungarn. Auch in der Schweiz fehlt Petroleum. Was geschieht, wenn sich der Mangel vermehrt? Das ist jetzt die Hauptsorge der Kriegführenden.