Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. März.

Präsident Wilson hat sich von den autoritativen Persönlichkeiten der Vereinigten Staaten bestätigen lassen, dass er berechtigt sei, die Handelsschiffe zu bewaffnen. Es ist damit auch im vollen Umfang begonnen worden. Für den 16. März ist eine außerordentliche Sitzung des Kongresses einberufen worden.

Das bedeutet, dass man in den Vereinigten Staaten entschlossen ist, die Lokomotive auf demselben Geleise mit Volldampf abzulassen, auf dem die von Deutschland abgelassene Lokomotive mit Volldampf heranbraust. Was sich daraus ergeben muss, ist klar. Der unvermeidliche Zusammenprall, die Katastrophe!

Gibt es wirklich keine Rettung mehr?

Für alle Kriege haben spätere Zeiten Möglichkeiten erkannt, durch die sie hätten vermieden werden können. Das beweist, dass die Konflikte nicht an sich unlösbar sind, ihre Unlösbarkeit vielmehr nur in der Psyche der Zeitgenossen begründet ist. Diese Psyche kann schon gefährlich sein, wenn sie sich aus dem Zustand des sogenannten Friedens entwickelt, um wieviel gefährlicher muss sie erst sein, wenn sie beeinflusst ist durch die dreißig Monate lange Dauer eines der ungeheuerlichsten Kriege. Es ist begreiflich, dass die verantwortlichen Menschen unter solchen Eindrücken keinen andern Ausweg sehen, als die Erweiterung der Katastrophe, dass sie sich in verhängnisvollster Weise den Grundsatz des «laisser aller laisser faire» zu eigen machen. Ihre Widerstandsfähigkeit nimmt ab in dem Masse, in dem die Mechanik des Geschehens an Umfang gewinnt.

Soll denn nun wirklich die ganze Erde verbrennen? Gibt es keine Verstandeskraft, keinen Willen mehr, der dem Unheil Einhalt gebieten könnte? Sicherlich werden kommende Generationen erkennen, dass es auch hier eine Lösung, einen Ausweg, ein Mittel zum Einhalten gegeben hätte. Wäre es nicht die grösste Kulturtat der Weltgeschichte, diesen Ausweg heute zu suchen, solange es noch einen Zweck hätte, ihn zu finden?

Das Unglück liegt daran, dass die Kriegführenden sich ausschliesslich auf einseitiges Denken, auf einseitige Beurteilung festgelegt haben, während der Geist der Verständigung das Eindringen in das Denken der Andern, die Beurteilung eines Konflikts von dem Gesichtspunkt beider Gegner zur Voraussetzung hat. So werden Dogmen geschaffen, die natürlich immer die schwersten Bollwerke gegen die Vernunft bilden.

In Deutschland ist mit allem Nachdruck das Dogma verkündet worden, es gäbe in bezug auf den Unterseebootkrieg kein Zurück mehr. Kein Zurück! — Das ist unbedingt ein Dogma. Nur Naturgesetzen gegenüber gibt es kein Zurück, bei allen menschlichen Handlungen ist stets die Möglichkeit gegeben, einen einmal gefassten Entschluss durch Vernunftschluss zu korrigieren. Und eine solche Korrektur ist vernünftig, wenn neue Erkenntnisse oder Erwägungen ein anderes Vorgehen als geeigneter erscheinen lassen. An sich ist die Schaffung eines Dogmas verwerflich, ganz besonders aber wo es sich, wie im gegenwärtigen Fall, um das Wohl und Wehe von Millionen Menschen, um das Glück kommender Generationen, um das Schicksal der Welt handelt. Man darf sich in keinem Fall den Rückzug verrammeln, so sehr man auch berechtigt sein mag, einen einmal gefassten Beschluss, möge er noch so reiflich erwogen sein, als den richtigen zu erkennen. Mehr als in normalen Zeiten trifft für die Zeiten des Chaos’ das Wahrwort des alten Philosophen zu: «Alles fliesst!» Jede Stunde kann Verschiebungen der Lage mit sich bringen, die eine Änderung früher gefasster Beschlüsse notwendig machen können. In der Politik brachte das starre System stets Unheil, in der Kriegführung ist es erst recht bedenklich.

Warum soll es z. B. «kein Zurück» mehr geben, wenn infolge des gefassten Beschlusses der Krieg einen Umfang und Formen anzunehmen droht, die dessen vernichtende Kraft, dessen Verlängerung als nur zu wahrscheinlich, den kommenden Frieden selbst nur als eine prekäre Sache erscheinen lassen. Das Dogma des «Kein Zurück» ist aus militärischen Gedankengängen entsprungen, und innerhalb dieser ganz vernünftig und annehmbar, wenn die militärische Maschine dem Tastendruck des klugen Politikers folgt. Wenn aber, wie vor Beginn dieses Kriegs und während dessen Verlauf, die militärische Maschine den Politiker beherrscht, dann geht es mit dieser wie Schiller es von den Elementen sagt: «Wehe, wenn sie losgelassen!»

Ein starker politischer Kopf, der sich vor dem «Kreuziget ihn!», der von der Kriegspsychose erfassten Clique nicht scheuen, der den Militärs eine dämmende Schranke sein würde, könnte noch immer der Weiterentwicklung Einhalt gebieten. Die Opfer und Kosten, die diese Fortsetzung des Kriegs bringen muss, sind ja unendlich größer als man sich früher die Opfer und Kosten des ganzen Kriegs vorgestellt hat. Hier wird für eine Episode ein Einsatz gewagt, dessen Grösse, hätte man sie voraussehen können, gewiss davon zurückgehalten hätte, den Krieg überhaupt zu unternehmen. Und trotz des bereits vergossenen Bluts, der bereits bewirkten Vernichtung, sieht man jetzt ruhiger und entschlossener den Folgen dieser Episode entgegen. Man hat sich an die Vernichtung gewöhnt, hat das Mass für ihre Schrecken verloren und kann sich der Schätzungen der Friedensperiode ebensowenig mehr entsinnen, wie man sich ein Bild der Zukunft zu machen vermag. Trotzdem glaubt man, vernünftig zu handeln, und hält die Tat von morgen durch die Geschehnisse von gestern gerechtfertigt, sich darüber nicht Rechenschaft gebend, dass dadurch das Ende immer weiter hinausgeschoben wird, das Ergebnis immer wertloser werden muss.