Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. Januar.

Die Ereignisse, die früher guten Anlass zu Glossen gaben, sind nicht weniger zahlreich geworden. Aber sie verlieren die Bedeutung durch die Spannung, mit der jetzt die Entwicklung des Friedens verfolgt wird. Es ist als ob die Lichter der Nacht verblassen infolge des Aufgehens der Sonne. Meine Eintragungen werden seltener. Und doch hätte es in diesen letzten Tagen genug gegeben, das hier festzuhalten wäre.

Da ist zunächst das Festmahl der amerikanischen Handelskammer zu Berlin, das dem zurück-gekehrten amerikanischen Botschafter Gerard zu Ehren veranstaltet wurde. Ein Bankett, das durch die Anwesenheit der Staatssekretäre Zimmermann, Helfferich, Solf, des Direktors der deutschen Bank, Gewinner, und durch die dabei gehaltenen Reden eine politische Bedeutung erlangte.

«Zu keinem Zeitpunkt seit der Gründung des Deutschen Reichs seien die Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten besser gewesen als in diesem Augenblick»

sagte der Botschafter Gerard. Und er gab der Zuversicht Ausdruck, dass, solange Männer wie der Reichskanzler, Staatssekretär Helfferich, Dr. Solf, Staatssekretär Zimmermann, Hindenburg, Ludendorff u. a. an der Spitze der Verwaltung stehen, diese guten Beziehungen aufrechterhalten bleiben werden.

Von ähnlicher freundschaftlicher Gesinnung waren auch die Reden der deutschen Funktionäre durchzogen.

Eine solche Freundschaftskundgebung zwischen den Vertretern zweier Länder, die beinahe zum Krieg miteinander gekommen wären, deren kriegerische Auseinandersetzung noch immer gefürchtet wird, ist im höchsten Mass lehrreich. Sie zeigt, wie es nur vom Willen abhängt, um mit einem Land freundschaftlich oder feindschaftlich zu verkehren. Ebensogut wie man jene Freundschafts-töne angeschlagen hat, hätte man Amerika als den Ausbund der Schlechtigkeit, der Hinterlist, der unter dem Deckmantel der Neutralität es mit den feinden Deutschlands haltenden Macht bezeichnen können, und man wäre des «lebhaften Beifalls» auch dabei sicher gewesen. Nun wollte man die Geste der Freundschaft. Man hat ja solche Freundschaftsbankette auch mit England veranstaltet. Sogar noch drei Wochen vor Kriegsbeginn. Dann hat man den Hassgefühlen freien Lauf gelassen. Man kann eben wie man will. Und deshalb sollte man mit aller Gewalt darauf hinarbeiten, dass man immer die Freundschaft wollen soll!

Uns ist diese Freundschaftsbekundung zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten sehr willkommen. Erstens bezeugt sie die Niederlage der kriegerisch gesinnten Elemente in Deutschland, die ja auch noch Amerika zum Gegner haben wollen, ferner lässt sie hoffen, dass Deutschland den ehrlichen pazifistischen Absichten Wilsons zugänglicher sein wird. Wenn die deutschen Staatsmänner glauben sollten, dass dieses Bankett die Entente und die Vereinigten Staaten entfremden werde, so irren sie sich. Es wird höchstens dazu dienen, die pazifistischen Ideen in der deutschen Regierung durch freundschaftlichen Druck seitens Amerikas zur Entfaltung zu bringen, und das wäre nicht wenig. Von keinem Land erhoffen die deutschen Pazifisten soviel als von Amerika.

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Der ehemalige Minister Kramarz, der zum Tod verurteilt war, ist jetzt — mit seinen Mitangeklagten — zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigt worden. Gleichzeitig wurde die Urteilsbegründung veröffentlicht.

Nach dieser «Begründung» muss man es als Menschenfreund mit wahrer Freude begrüßen, dass die Absicht des Urteils nicht ausgeführt und eine Strafe gewählt wurde, die Reparabilität möglich macht. Die Begründung trägt das Antlitz eines Rechts, das durch den Krieg schmerzhaft verzerrt ist, und das nach Wiedereintritt normaler Zustände mit andern Augen angesehen werden wird. Die Verurteilung Kramarz’ und Genossen ist ein Kriegsereignis.

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Es gibt noch immer Leute in Deutschland, die durch die militärischen Siege so berauscht sind, dass sie Friedensziele aufstellen, die nur die Verlängerung des Kriegs nach sich ziehen müssen. Der «Deutsche Nationalausschuss» hat kürzlich eine Sitzung abgehalten, in der er eine Erklärung über die Kriegsziele beschloss. In dieser Erklärung heisst es:

«lieber die eroberten Gebiete ist auf Grund der Kriegslage unter Betonung der deutschen Interessen zu entscheiden.»

Das wäre sehr gut, wenn diejenigen, die das fordern, nur beurteilen könnten, worin das deutsche Interesse liegt. Sie wissen es nicht, denn sie sagen weiter:

«Vor allem sind die strategisch erforderlichen Grenzberichtigungen zu erstreben. Das Schlagwort «Enteignungspolitik» dürfte Deutschland nicht schrecken.»

Der Irrwahn brennt also weiter. Noch immer fehlt die Einsicht über das Verhältnis zwischen dem Wert des zu Erreichenden und den dazu noch nötigen Opfern. Dieses Verhältnis beleuchtet in grellem Licht eine Stelle aus der Rede, die der Abgeordnete Stresemann am 7. Januar in Hannover gehalten hat. Er stellte da folgendes Zukunftsbild auf:

«Die aufgehäuften Kriegsschulden werden voraussichtlich im Reich neue Steuern im Betrag von 6 bis 7 Milliarden Mark nötig machen. Dazu kommen neue Steuern in den Bundesstaaten und neue Steuern in den Gemeinden. Man ist sich an den massgebenden Stellen über zwei Gesichtspunkte klar, darüber nämlich, dass diese Steuern nicht auf die Dauer aufzubringen sind, sondern dass ein Teil der Schulden sofort abgetragen werden muss durch weitgehende Vermögensabgaben — unter Einschluss auch der kleinen Vermögen — im Betrag von 1/4 bis 1/3 des Vermögensbesitzes.»

Der Irrwahn der Annexionisten kostet das deutsche Volk schon die Grundlage seines Wohlstands, sollte dieser Wahn aber noch weiter verfolgt werden, dann werden die Milliarden eine solche Höhe erreichen, die Not so gross werden, dass, selbst wenn die strategischen Sicherungen behauptet werden, ihr Wert in keinem Verhältnis steht zu den Kosten. Die Vernunft muss zur Geltung kommen, sonst ist es zu spät.

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In meiner Eintragung vom 4. Dezember warnte ich davor, anknüpfend an die Bramarbasrede Trepows in der Duma, diese Rede ernst zu nehmen:

«Auch dieser Ministerpräsident wird eines Tags von der Bildfläche verschwinden und einem andern Platz machen . . .»

Kaum ein Monat ist dahingegangen, seitdem ich das schrieb, und Trepow ist nicht mehr Minister. * * *

Die Entente-Antwort auf die Wilson-Note ist gestern in Paris dem amerikanischen Gesandten übergeben worden. Sie soll ein grosses programmatisches Dokument bilden. — Was wird ihre Wirkung sein?