Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

9. Mai (Lugano) 1915.

Nach den heutigen Berichten befanden sich einschliesslich der Bemannung 2160 Menschen auf der «Lusitania». Gerettet sind 658. Über 100 Leichen aufgefischt. Demnach 1500 Tote! Das Schiff soll ohne Verwarnung torpilliert worden sein. Die Aufregung in England und in den Vereinigten Staaten ungeheuer. Ich fürchte Jubelartikel in gewissen deutschen Zeitungen.

Ich lese die Betrachtungen nach, die Bertha von Suttner im Maiheft 1912 der «Friedens-Warte» über den Untergang der «Titanic» geschrieben hat. Sie sind in der Tat jetzt höchst lesenswert.

Der Zusammentritt des italienischen Parlaments, der für den 12. Mai anberaumt war, ist auf den 20. Mai vertagt worden. Man weiss nicht, ob dies für Krieg oder für Frieden spricht. Man weiss überhaupt nichts. Nur dass die Lage im höchsten Masse kritisch ist, darüber sind sich die italienischen wie die deutschen Blätter einig. Die ersteren, die so tun als ob der Krieg stündlich losbrechen könne, wissen zur Erhärtung ihrer Behauptung doch nichts andres zu melden als die Aufzählung der Konferenzen, die die verschiedenen Diplomaten und Staatsmänner miteinander gehabt haben, und wie lange diese dauerten. Was sie miteinander verhandeln, weiss keiner von den Millionen, über deren gesunde Knochen und Köpfe hier entschieden wird. Der unhaltbare Zustand der geheimen Diplomatie zeigt sich in der italienischen Krise auf das deutlichste. Das, was man da als italienische Volksstimmung bezeichnet, die den Krieg «will», ist doch nichts weiter als der Dampf und Dunst, den die Diplomatie loslässt, um darin ungestörter arbeiten zu können. Es ist einfach nicht wahr, dass irgend ein Volk den Krieg «will». Dieser Wille wird suggeriert und aufgebauscht.

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In einer Siegesdepesche des österreichisch-ungarischen Hauptquartiers fiel mir die triumphierende Mitteilung auf: «Tarnow ist wieder in unserm Besitz!» — Man denke, Tarnow! Bisher kannte man diese Stadt nur aus jüdischen Anekdoten und aus den Berichten über zweifelhafte Geschäftsgebräuche. Was war uns Tarnow? Und jetzt jubeln wir, weil wir es — wer weiss mit welchen Opfern — wiedererrungen haben. Tarnow ist wieder in unserm Besitz. Riva, Arco, Trient und Bozen anscheinend nicht mehr. Wem fallen da nicht Heines Worte ein: «Goethe ist tot und Eckermann noch am Leben».