Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. Oktober.

Professor Zorn veröffentlicht in der norwegischen Zeitschrift «Tidens Tegn» einen Aufsatz mit dem Titel «Der grosse Aberglaube», der im Umfang eines spaltenlangen Telegramms aus Christiania in der «Köln. Zeitung» vom 15.  Oktober wiedergegeben wird. Der «grosse Aberglaube» ist der Glaube an Deutschlands Kriegs- und Eroberungslust, seine Beurteilung nach den Büchern Bernhardis. Er liege in der Annahme von Deutschlands «angeblich ablehnenden Verhaltens auf den Haager Friedenskonferenzen». Zum Schluss kommt Zorn auf den Anlass des gegenwärtigen Krieges zu sprechen. Er sagt:

«Der gegen Deutschland erhobene Vorwurf, dass man den durch den serbischen Fürstenmord entstandenen Streitfall zwischen Österreich-Ungarn und Serbien nicht einem Schiedsgericht überwiesen habe, woraus klar hervorgehe, dass die Mittelmächte den Weltkrieg gewollt und mit bewusster Absicht herbeigeführt hätten, ist völlig grundlos. Selbst auf der zweiten Friedenskonferenz habe ein lückenloses Einverständnis darüber bestanden, dass Fragen der nationalen Ehre sich nicht zu schiedsrichterlicher Erledigung eignen. Dieser Streitfall, in dem es sich geradezu um den höchsten Ehrenpunkt der österreichisch-ungarischen Monarchie gehandelt habe, hätte seine Erledigung nur zwischen Österreich-Ungarn und Serbien allein finden können».

Demgegenüber muss zunächst bemerkt werden, dass der Vorbehalt der nationalen Ehre für Schiedsfälle niemals als ein wesentlicher Bestandteil der Schiedsgerichtsbarkeit angesehen wurde, sondern nur als eine bedauerliche Unvollkommenheit des Systems. Er wurde in die Haager Abmachungen nur eingefügt, um den um ihre Souveränität beängstigten Regierungen die Zustimmung zu erleichtern. Immer aber mit dem vollen Bewusstsein, dass ein solcher Vorbehalt das ganze Abkommen illusorisch macht; doch in der Annahme, dass es besser sei, ein fragwürdiges Friedensinstrument zu schaffen als gar keines, und in der Hoffnung, dass Gewöhnung und Beispiel die Anwendung jenes fragwürdigen Friedensinstrumentes doch häufiger machen und den Vorbehalt immer seltener zur Geltung kommen lassen werde. Bestärkt wurde diese Hoffnung durch die Praxis. Zahlreiche Konflikte fanden schiedsrichterliche Erledigung, bei denen die nationale Ehre berührt war. Auch Schiedsverträge wurden abgeschlossen, deren Geltungskraft durch keinerlei Vorbehalt eingeschränkt wurde, so dass sie auch für Streitfälle Geltung besassen, in denen die nationale Ehre als berührt angesehen werden konnte.

Für die künftige Friedenssicherung muss es als ganz ausgeschlossen gelten, dass man die Rücksichten auf die «nationale Ehre» als ein Hindernis für eine friedliche Beilegung von Konflikten wird aufstellen können. Nach den Erfahrungen, die der Weltkrieg über Europa gebracht hat, nachdem es nun einmal in das Bewusstsein der Zeitgenossen eingeprägt wurde, was ein moderner Krieg bedeutet, wird es einfach nicht mehr denkbar sein, dass ein Staat lediglich aus mittelalterlichen Ehrbegriffen heraus, es vorziehen sollte, lieber eine halbe Million jugendkräftiger Bürger zu Tode zu verdammen, seine eigene Existenz aufs Spiel zu setzen und die Arbeit eines Jahrhunderts mit Milliardenlasten zu bedrücken, statt einen billigen, friedlichen Ausgleich anzunehmen. Es wird einfach nicht mehr mit der nationalen Ehre vereinbar sein, hier zu wählen. Man wird schliesslich zu einem vernünftigen, internationalen Abkommen gelangen, dessen einziger Artikel lauten wird:

«Die nationale Ehre eines jeden Staates ist unverletzbar».

In keinem Falle wird man mehr das Recht haben, einem Friedensinstrument, dessen Anwendung durch einen solchen Vorbehalt völlig in das freie Belieben der Vertragschliessenden gestellt ist, irgend eine Bedeutung beizulegen. Das ist vieux jeu, mit dem man sich künftig nicht abgeben wird.

Dass aber der Streitfall zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ein solcher war, in dem es sich, wie Zorn behauptet, «um den höchsten Ehrenpunkt der österreichisch-ungarischen Monarchie gehandelt habe», ist ein Irrtum. Nicht der serbische Fürstenmord oder dessen Ahndung sollte einer schiedsrichterlichen Entscheidung unterbreitet werden, dazu hatte Serbien bereits die von ihm geforderte Genugtuung und das verlangte Verfahren zugesagt, sondern lediglich die Frage, ob österreichisch-ungarische Organe bei in Serbien zu unternehmenden polizeilichen Vorerhebungen zuzulassen seien oder nicht. Die österreichisch-ungarische Regierung mag triftige Gründe gehabt haben, sich auf eine schiedsrichterliche Entscheidung hierbei nicht einzulassen, der Einwand der «nationalen Ehre» war aber keineswegs gegeben und hat sie bei der Ablehnung des Schiedsgerichts auch sicherlich nicht bestimmt.