Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Februar.

Unter den heutigen Briefen wieder ein Schmerzensschrei. Eine deutsche Dame schreibt mir über das Los eines jungen Engländers — Barrister — der im Sommer 1914 in einem thüringischen Dorf vom Krieg überrascht wurde und nun seit November 1914 in Ruheleben schmachtet. Sie schreibt,

«dass er sicher zu denjenigen gehört, die ihrer ganzen Veranlagung nach seelisch am grausamsten unter den Verhältnissen dort leiden. Vor allem, weil Mr. J. früher ein Freund Deutschlands war, und sich in seiner idealen Weise überhaupt keinen Begriff von den Zuständen zu machen vermochte, welche der Krieg geschaffen hat, und die er nun am eigenen Leib so hart zu fühlen bekommt. Vor einiger Zeit schrieb er mir einen Brief, der voll von Bitterkeiten war über die Behandlung, über die ewigen Strafen und Repressalien: ,eines habe ich hier gelernt: Hassen’. Heut schreibt er mir von einem Freund, einem jungen Mann, der seit den 14 Monaten Gefangenschaft um zehn Jahre gealtert sein soll und sich jetzt im Lazarett befindet ... ,lt is wonderful even more dont go mad’. — More? Also gibt es doch offenbar einige? Und soll keine Möglichkeit existieren, einen oder den andern diesen furchtbaren, nutzlosen, unverdienten Grausamkeiten zu entreissen?»

Möglichkeiten? Gewiss. Wenn nur der Wille vorhanden wäre. Es müsste doch ein Austausch all dieser zwecklos gequälten Opfer möglich sein. Person gegen Person, Altersklasse gegen Altersklasse. Aber man will das gar nicht. Man will anscheinend überall Objekte haben, an denen man seinen Hass auslassen kann, und man braucht anscheinend Objekte, denen man dauernden und nachhaltigen Hass einprägen will. Welch prachtvolles Mittel, spätere Rüstungsforderungen zu begründen. Seht, so wird man jedem Volk zurufen, wie sie uns hassen. Darum noch mehr Kanonen, noch mehr Kriegsschiffe. Und heute züchtet man diesen Hass mit einer Sorgfalt, mit einer Umsicht, als handle es sich um die nächste Ernte, um die Zukunft unserer Kinder. Derweil handelt es sich nur um die Zukunft der Waffenfabriken und um den Nachweis der Unentbehrlichkeit der militärischen Organisation.

Man denkt an Vieles heute, wenn man glaubt, dem Geschmack der Machtträger zu schmeicheln, so z.B. daran, den russischen Gefangenen die Feier des Namenstages des Zaren zu ermöglichen — natürlich unter Gewähr der Gegenseitigkeit. Aber das Los der Hunderttausende in den verschiedenen Konzentrationslagern, die unschuldig und zwecklos, zu Tieren herabgedrückt, verfaulen, an sie und an die Erleichterung ihres Schicksals denkt niemand. Und doch ist es fürchterlich, fürchterlicher als das der Erschlagenen, auf Jahre hinaus — und wer weiss auf wieviel Jahre — zu einem Tierleben verdammt zu sein, zu seelischen und physischen Qualen, zu Krankheit, Wahnsinn und langsamem Sterben. Wie schön, oh, Mensch mit deinem Palmenzweige ... wie schön steht da unsere vielgepriesene Kultur, unser humanes Zeitalter, das Christentum. Wenn dieser Krieg die Vernichtung Europas mit sich bringt, wahrhaftig es wäre nicht schade darum. Was kann sich denn auf diesem Misthaufen noch entwickeln, wenn die Schändlichkeiten dieses «frisch-fröhlichen» Kriegs möglich waren.

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Seit gestern ist Louis P. Lochner, der Sekretär Ford's hier, um das Schweizerkomitee der Neutralen zu organisieren. — — Keinen guten Eindruck von dem Unternehmen. Verschwommener Dilettantismus, der zeitgemäss ist, aber der Sache schaden wird.