Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

25. März (Lugano) 1915.

Bei der Übergabe von Przemysl sollen 120,000 Gefangene in russische Hände gefallen sein. Ein schwerer Schlag. Aber darüber geht man hinweg. In österreichischen wie reichsdeutschen Zeitungen wird das Ereignis des Falles von Przemysl als das bedeutungsloseste Ding der Welt dargestellt. «Ein Mauerhaufen fällt in die Hände der Feinde». Bah! — Als der «Mauerhaufen» Belgrad besetzt wurde, beleuchteten die Bewohner der grossen Städte ihre Häuser, Fahnen wurden ausgesteckt und in bombastischen Leitartikeln wurde «das Grosse» gepriesen. Jetzt will man aber dem Volk einreden, dass der Verlust von Przemysl gar nichts bedeute. Gar nichts! Die Verteidiger hätten ihre Pflicht getan, indem sie die Festung so lange gehalten haben. Im übrigen war wieder das schlechte Wetter daran schuld, wie ein Korrespondent in seinen journalistischen Purzelbäumen klarlegt. — Aber auf der andern Seite des Spiels wird der Geschichte doch die übliche Bedeutung beigelegt. Da wird im Hauptquartier in Gegenwart des Zaren und des Oberstkommandierenden ein Tedeum abgehalten, auf den Petersburger Strassen wird geflaggt, die «fröhlich erregte Menge» ergeht sich in patriotischen Kundgebungen, und alle Popen des Zarenreichs zelebrieren Dankgottesdienste. Das ist nun einmal militärischer Stil. Uns erscheint er ein Anachronismus. Aber vielleicht irren wir uns: vielleicht sind in dieser schlachtenfeiernden Welt wir der Anachronismus.

Am 22. hielt Sir Edward Grey in London eine Rede, die tiefen Eindruck auf mich machte. Freilich, die deutsche Presse kommentiert sie als «Schwindel», «Versuch, die Neutralen günstig zu stimmen», kurz, belegt sie mit jenem Bannfluch der Heuchelei, gegen den es keine Beweise gibt. Und doch dünkt mich, es ist viel Wahres in jenen Worten. Und selbst wenn sie Heuchelei wäre, dann ist es eine so sehr geschickt vorgebrachte, dass man das Genie bewundern muss, das so ausgezeichnet zu heucheln versteht.

Nach den Zeitungsberichten erinnerte Sir Edward Grey an die Hunderte von Millionen Geldes, die ausgegeben, an die Hunderttausende von Existenzen, die geopfert, an die Millionen Verwundeten, die in Europa während der letzten Monate verstümmelt worden seien. Alles hätte durch eine einfache Konferenz zwischen den Grossmächten an dem Orte und in der Form, wie England sie gewünscht hätte, vermieden werden können. Es wäre weit leichter gewesen, mittels einer Konferenz den Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn zu regeln, den Deutschland als Gelegenheit benützte, um jenen Krieg zu entfesseln, den man während der Balkankrise vor zwei Jahren glücklicherweise habe vermeiden können. Die Erfahrung der Londoner Konferenz, welche die Balkankrise regelte, habe bewiesen, dass Deutschland auf die friedfertigen Gesinnungen Englands zählen konnte. «Während der ganzen Konferenz haben wir keinen diplomatischen Triumph gesucht. In der Balkankonferenz haben wir uns zu keiner Intrige hingegeben; wir haben unparteiisch und in ehrenhafter Weise das vorgesetzte Ziel, das der Frieden war, verfolgt. Wir waren im letzten Juli noch geneigt, so zu handeln. In den letzten Jahren haben wir Deutschland vollständige Versicherungen gegeben, dass jeder gegen Deutschland gerichtete Angriff von uns keinerlei Unterstützung finden würde. Das einzige, das wir ablehnten, war, uns unbedingt abseits zu halten, wie aggressiv sich Deutschland gegenüber den benachbarten Nationen auch zeigen möchte. Am letzten Juli waren Frankreich, Italien und Russland bereit, die Konferenz anzunehmen, und nach dem von Grossbritannien gemachten Vorschlag einer Konferenz schlug der Kaiser von Russland dem deutschen Kaiser selber vor, den Konflikt dem Haager Schiedsgericht zu unterbreiten; doch Deutschland lehnte jeden Gedanken einer solchen Regelung ab. Daher fällt ihm für immer die furchtbare Verantwortlichkeit zu, Europa in den Krieg gestürzt zu haben. Wir wissen nunmehr, dass es den Krieg vorbereitete, denn nur jene, die den Krieg heimlich vorbereiten, sind imstande, ihn zu beginnen. Es ist das vierte Mal seit Menschengedenken, dass Preussen in Europa Krieg begann. Die heute bekannten Dokumente stellen fest, dass der Krieg von Schleswig-Holstein, der österreichische Krieg von 1866 und der Krieg von 1870 von Preussen gewollt und entfesselt wurden. Es verhält sich ebenso mit dem gegenwärtigen Kriege und wir meinen, es sei zum letzten Male».

Grey erinnerte daran, dass er lange vor dem Krieg Belgien gegenüber das Versprechen abgab, dass Grossbritannien seine Neutralität nie verletzen würde, solange diese von den übrigen Grossmächten respektiert werde. Da Deutschland in Belgien eindrang, sei England gezwungen gewesen, Deutschland alle seine Kräfte entgegenzustellen. «Wenn wir das nicht von Anbeginn taten, glaubt heute jemand, dass wir, indem wir sahen, wie Deutschland die Belgier angriff, die Nichtkombattanten füsilierte, das Land verwüstete und dort alle Regeln des modernen Krieges und die ewigen Grundsätze der Menschlichkeit verletzte, gibt es jemand, der meint, es wäre für uns möglich gewesen, mit gekreuzten Armen diesem Schauspiele zuzusehen, ohne uns für immer zu entehren? Ein wesentliches Element der Friedensbedingungen wird notgedrungen die Rückerstattung eines unabhängigen nationalen Lebens an Belgien, der freie Besitz seines Gebietes und die Genugtuung in jedem möglichen Masse für die grausamen Ungerechtigkeiten, deren Opfer es geworden, ausmachen. Das grosse Prinzip, für das die Verbündeten kämpfen, ist das, dass die Nationen Europas, seien sie grosse oder kleine, unabhängig leben, sich nach ihrem Gutdünken Regierungen geben und sich in aller Freiheit auf ihre Art entwickeln können sollen. (Beifall). Die deutschen Professoren und Publizisten liessen uns seit Kriegsbeginn das deutsche Ideal erkennen. Dieses Ideal ist, dass die Deutschen ein überlegenes Volk darstellen, dem alles erlaubt sei, und dass der Widerstand gegen dieses in roher Weise vernichtet werden müsse. Die Deutschen trachten ihre Herrschaft über alle europäischen Nationen zu errichten, indem sie jeder von ihnen Gehorsam gegenüber Deutschland aufzwingen wollen. Ich würde eher vorziehen, unterzugehen, als Europa für immer einem Leben unter solchen Bedingungen zu überlassen (Beifall). Nach dem Kriege werden wir und die übrigen Nationen frei leben können, ohne ständige Drohungen aus dem Munde kriegerischer Monarchen, ohne Waffengefunkel, ohne Säbelgerassel, ohne ständige Anrufung eines mit Deutschland verbündeten Himmels. Wir werden in Sicherheit uns unserer unabhängigen Souveränität, der Gleichheit und der Freiheit erfreuen können.» (Anhaltender Beifall).